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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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Geld hab ich genug. Aber fürs Sexuelle gibt’s keine gesellschaftliche Solidarität. Man denkt nich an so was, solang da sind noch keine Probleme. Und niemand hat es einem beigebracht.
    So dachte Viktor.
    Er öffnet leise die angelehnte Tür zur Remise. Drinnen horcht er. Keuchendes Schnaufen ist von oben zu hören, hin und wieder ein Stöhnen. Sonst ist es ruhig. Aus dem herumliegenden Gerümpel von Kutschen und Holzfässern und Holzachsen mit Holzrädern und gebogenen Kufen von Langholzschlitten zieht er unter einer alten Heuhäckselmaschine eine zwei Meter lange Holzleiter heraus. Ich hätte das früher vorbereiten müssen, jetzt ist es zu spät, murmelt er und rich tet die Leiter in einer Ecke des Schuppens auf, wo oben zwei lose nebeneinanderliegende Bretter, die mit anderen zusammen die Decke des Raumes bilden, ein wenig übereinandergeschoben sind und einen Spalt freigeben, so dass leicht ein Kopf hindurchgeschoben werden kann. Nur gut, dass ich mir nix mach aus Kindern, sonst möchte ich da womöglich noch kommen in eine Bredouille.
    Dann steigt er Sprosse für Sprosse bedächtig hinauf.
    In der Dorfkapelle beginnen die Glocken das Mittagsgeläute. Verfluchte Nonnen!, entfährt es Viktor, und durch das Loch im Bretterboden sieht er gerade noch drei Buben ihre Hosen hochziehen und geduckt unterm Dachgiebel über seinen Kopf hinweg davonlaufen. Laut scheppern die sich durchbiegenden und wieder aufschlagenden Bretter. Wie die große Trommel am Kriegerjahrtag, denkt er, und auch danach ist es wieder still.
    Warum ist es immer wieder so still?
    Die Glocken haben aufgehört zu läuten, von den Buben ist nichts mehr zu hören, Viktor steht immer noch unter die Holzdecke gebückt auf der Leiter. Immer so still!
    Er ist 82 und sieht und hört noch alles. Zum Lesen benutzt er seit 20 Jahren eine Brille, und immer noch dieselbe, und sonst hat er keine Gebrechen. Warum ist es nur so still? Wenn wenigstens der Flieger noch mal käme. Plötzlich hat er Höhenangst. Komm nur, kleines Mäuschen, lass dich nicht so gehen, blubbert es in seinem Hirn, so dass er sich ein bisschen schämt. Er steigt die Leiter wieder hinunter, ertastet sich die Sprossen und verlässt den Schuppen.
    Wie er durch das Haupthaus geht – eigentlich schlurft er ja, wie er so durchs Haupthaus geht – ist es da alles andere als still. Da ist eine Geschäftigkeit, ein lautes Reden und ein Werkeln wie in jeder anderen Saisonwirtschaft, wenn an heißen Tagen, kurz bevor die Gäste kommen, die letzten Vorberei tungen getroffen werden. Viktor durchquert die Küche und geht durch den Hausgang weiter und vorbei an der Schänke einer hoch aufgedrehten Gastwirtschaft. Und da ist nichts von einer Stille oder Ruhe, nichts von dem für ihn so Eigentümlichen und doch eigentlich Normalen, das ihn vorher so in Angst versetzt zu haben schien. Er tritt durch die Haustür hinaus auf die seeseitige Aufgangsveranda und sieht, dass der Dampfer schon angelegt hat. Fest krampfen seine Hände sich um das Geländer, lang starrt er auf das Schiff, das keine fünfzig Schritt vom Ufer weg am großen Steg verankert liegt, fast unwirklich in seiner Größe, bedrohlich nah, auf bewegtem Grund das Gegenbild der Gastwirtschaft, vor deren Eingangstüre er auf festem Boden steht – und dann entfährt es ihm ein zweites Mal: Verfluchte Nonnen!
    Diesmal kommt es aus der Tiefe, es ist nicht mehr nur spontan und nur Reflex, kommt nicht mehr nur aus dem Gefühl, es kommt jetzt aus dem Boden, kommt durchs Grundwasser, kommt hervor aus alter Zeit: Verfluchte Nonnen!, dass es nur so brodelt.
    Es ist mehr als nur Verwünschung. Es ist eine Lossagung von allem: Vom Pünktlichkeitsgebot, vom aufgezwungenen nachbarschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühl, von dorfgesellschaftlichen Tabus, von den Fesseln des Anstandes, der Höflichkeit und der Rücksichtnahme. Es ist das Ende der Konvention.
    Semi tritt aus dem Haus und stellt sich neben Viktor.
    Hast du das Schiff versäumt?
    No! Was versäumt, antwortet er, nix hab ich versäumt. Die Nonnen haben nicht geläutet. Er ist erregt und spricht jetzt Schlesisch, die Sprache der Landschaft, aus der er einst kam.
    Doch, die haben geläutet, widerspricht Semi, ich hab es doch gehört.
    Nu ja, natürlich, geleitet ham se schon. Drum haste was gehört. Aber sie haben nicht pünktlich geleitet. Nicht um zwelfe, dass ich mich könnte drauf verlassen. Um zwelfe ist Mittag, nich um halb eins.
    Semi schaut ihn nicht mal an.
    Du musst ihnen die Leviten
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