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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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andern ein wenig voraus pflügte mit kräftigen Ruderschlägen der starke Dinewitzer das größte der Boote, das Postboot, durchs ruhige Wasser. Er war das Rudern gewohnt. Dreimal die Woche mindestens ruderte er zwischen Seedorf und Klosterried auf der anderen Seite des Sees hin und her, bei jedem Wetter, und brachte die Post vom Klosterrieder Bahnhof in die südlich gelegenen Ostufergemeinden herüber. Aber nicht Briefe oder Pakete beschwerten sein Boot so sehr, dass der Schiffsrand manchmal einzutauchen drohte, so nahe, wie er oft der Wasseroberfläche kam, sondern es waren 30 und 50 Liter Bierfässer für den Seewirt und andere Wirtshäuser oder anderes sperriges Frachtgut für einen Villenbesitzer, das mit der Bahn drüben angeliefert worden war, um nun herüben an den Empfänger ausgeliefert zu werden, und das der Dinewitzer quasi nebenher transportierte – denn Seedorf hatte keine Zuganbindung. Und wenn er sich gerade aufmachen und leer hinüberrudern wollte, ans andere Ufer, um sein Transportgut in Empfang zu nehmen, dann konnte es vorkommen, dass ihn der eine oder andere Kirchgruber Bauer, der seinen 20 Zentner Stier an den Münchner Schlachthof losgeschlagen hatte, weil er da ein paar Pfennig mehr dafür bekam als beim Metzger in Seetal, dass der ihn zurückhielt und mit dem Versprechen einer fleischhaltigen Brotzeit und einer Maß Bier zu überreden suchte, das Stück Vieh mitzunehmen, denn weit sei es ja wirklich nicht bis nach Klosterried hinüber und er selber, der Bauer, habe gerade sehr dahinter her zu sein, dass das Heu eingefahren werde, solang das Wetter noch halte. Sonst würde er ja selber den alten Max nach Seestadt hinuntergetrieben und ihn dort in den Viehwaggon gestellt haben. Es sei also nur ausnahmsweise, ein kleiner Gefallen, weil man sich kennt.
    Ja, ja, pflegte der Dinewitzer zu antworten, ich kenn euch, um dann wortlos den nervös tänzelnden Stier beim Nasenring zu nehmen und ihn von der Seestraße weg hinunter zum Ufer zu führen. Dort band er ihn an einem Stegpfosten fest und brachte den Kahn seitwärts daneben. Aus der Bootshütte vom Seewirt, wo er für solche Fälle vorausschauend schon einen kleinen Vorrat angelegt hatte, holte er einen Kübel voll Gerstenschrot und stellte den in die Mitte des Kahns, wo der Stier sich sofort gierig über das Kraftfutter hermachte und um sich herum nichts mehr wahrnahm. Dann fesselte der Dinewitzer mit ein paar Kälberstricken dem Stier zuerst die vorderen und danach die hinteren Haxen jeweils nur so nahe aneinander, dass der, durchs Fressen abgelenkt, es noch nicht als Störung wahrnehmen konnte. Zuletzt verknotete er das eine Ende eines Zugseils mit der Fesselung der Hinterbeine und führte den langen Seilrest durch den Kälberstrick an den Vorderbeinen – und ohne Vorwarnung, mitten in die ruhigen Bewegungen der Vorbereitung hinein, duckte er sich mit einem Mal unter den schweren Leib des Bullen und wuchtete ihn mit der rechten Schulter ins leere Boot, auf dessen Boden der Stier mit dem Rücken zu liegen kam, so dass dem überheblich daneben stehenden Bauern der nackte Schreck ins blöd schauende Gesicht fuhr. Und noch ehe das Tier sich besonnen hatte und ihm die ersten Verteidigungsreflexe kamen, hatte der Postbote das lange Zugseil schon so kräftig angezogen und verknotet, dass die gefesselten Vorderhaxen des Stiers nun auch noch an die gefesselten Hinterhaxen gefesselt waren. Jetzt erst fiel dem Bauern der Unterkiefer herunter, bis ihm der Mund weit offen stand, so schnell war alles gegangen. Der Stier zuckte und ruckte während der ganzen halbstündigen Überfahrt. Aber er konnte nicht mehr aufstehen. Des Postboten Stricke hatten ihn seiner letzten Freiheit beraubt: der Bewegungsfreiheit.
    Ahoi, Dinewitzer! Dich hätt ich gerne noch kennengelernt. Andere eher lieber nicht.
     
    Und während er jetzt in den Sonnenuntergang hinein und dem lauter und lauter werdenden Glockengeläute der Klosterrieder Marienkirche entgegen seinen Kahn hinüberruderte nach Klosterried zur Lichterprozession, der Dinewitzer, darin die vier Kirchgruber Gemeinderäte mit dem Bürgermeister Müller, die kein eigenes Boot besaßen, weil sie da droben in Kirchgrub gar keines brauchten, so weit weg vom See, wie sie da oben wohnten, da beugte sich mit einem Mal der Bürgermeister Müller, der vorn allein im Bug des Bootes saß, über den ihm zugekehrten Rücken des rudernden Dinewitzer, brachte seinen Mund ganz nah an dessen Ohr heran und sagte, halblaut und für die
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