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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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müssen nicht mehr fragen! Wenn es sowieso nicht mehr als nur sechs Wochen dauert, hätte er doch gut die Ferien hindurch dem Bruder seine Sachen tragen und beim Schießen helfen können in der Zeit. Den ganzen Sommer über wohnten Kinder hier im Haus, die von zu Hause weggefahren waren und hier die Ferien verbrachten. Und er musste jedes Jahr das ganze Jahr zu Hause bleiben, durfte nie weg und hätte jetzt doch endlich einmal, wo es die Gelegenheit gerade gab – wann kommt die wieder? – Ferien machen können, Ferien im Krieg. Statt daheim bleiben und faulenzen. Die Daheimbleiber sind die Faulenzer. Drückeberger sind sie!
    Könnte die Mare ihn verstehen, die jetzt mit weit ausholenden Schritten unter dem langen Leinenrock den Kalvarienbergweg heraufkommt, Freude verstrahlend mit jeder Bewegung und Glück, das pure Glück des Seins, in der einen Hand im Korb sein Mittagessen und den Krug mit kühlem, klarem Brunnenwasser, vermischt mit Apfelsaft, in ihrer anderen? Schlagartig merkt er jetzt einen brennenden Durst unterm Gaumen und im Rachen. Trotzdem tut er so, als würde er sie gar nicht sehen. Denn seine Gedanken sind ja düster, und das sollen die anderen ruhig wissen, auch wenn die anderen jetzt nur die Mare ist. Sie würde es daheim schon weitersagen. Bestimmt.
    Jetzt geh weiter, iss was!, fordert sie ihn auf, als er immer noch so tut, als sähe er den Krug und das gefüllte Glas nicht und den Teller mit dem gelblich braunen Kaiserschmarrn mit fein geriebenem Puderzucker drüber, die sie auf einem weißen Tuch vor ihn hin ins Gras gestellt hat. Ich mag nicht, bockt er, und sie streicht ihm übers Haar: Heut hab ich aber noch mehr Puderzucker draufgestreut als letztes Mal. – Das letzte Mal ist lange her. – Er weiß schon gar nicht mehr: wie lang? Und wer weiß, wann das nächste Mal sein wird.
    Wir werden mehr tun müssen und weniger haben, wenn der Krieg nicht bald aufhört, hat der Vater kürzlich beim Mittagessen gesagt, nachdem sie das letzte Grummet am Vormittag zum Trocknen ausgebreitet hatten, um es am Nachmittag einzufahren – mehr nicht als diesen einen Satz. Bevor er diesen Satz sprach, hatte er sich mit einem ganz ernsten und besonders strengen Gesicht Raum geschafft, als ob er eine lange Rede beginnen würde. Doch er sprach nur diesen einen Satz. Dann aß er schweigend sein Mittagessen auf, schob den leeren Teller weg und sagte in die Stille hinein, die derweil am Tisch herrschte: Ich war am Vormittag auf der Bank und habe kein Geld mehr gekriegt. Das hat was zu bedeuten! – Sagte es, als ob er beim Essen nur eine Redepause machen wollte.
    Es war jetzt schon Mitte September, und die versprochenen sechs Wochen Krieg waren um, aber weder der älteste Sohn noch der Knecht waren bisher heimgekommen. Vor einer Woche waren zwei Pferde requiriert worden. Es standen jetzt nur noch zwei Pferde für die vielfältigen Arbeiten zur Verfügung – und auf der Bank gab es kein Geld mehr. Das hat was zu bedeuten! Dieser Satz blieb allen im Gedächtnis hängen, als sie vom Essen aufstanden, um wieder an die Arbeit zu gehen: Das hat was zu bedeuten.
    Als die Knechte und Mägde gegangen waren, forderte der Seewirt mit einer Handbewegung die Frau und die drei Töchter zum Bleiben auf. Du gehst deine Hausaufgaben machen, sagte er zum Pankraz, und der begriff, dass jetzt was Geheimes zur Sprache kommen würde, und blieb deswegen vor der Tür stehen zum Horchen. – Unser Schlafzimmer ist ab heute abgesperrt. Den Schlüssel hab ich. Die Einnahmen bleiben jetzt im Haus. Wir können sonst nicht mehr wirtschaften. Und ich möchte, dass das unter uns bleibt. Das geht die Angestellten nichts an, dass Geld im Haus ist und wo. Haben wir uns verstanden?, fragte er streng, und alle nickten stumm. Und auch der Pankraz muss es nicht wissen. Der ist noch zu jung dafür. Der versteht das noch nicht. Der redet sonst nur rum.
    Die Schwestern sind dann am Nachmittag mit dem Fahrrad nach Seetal zur herrschaftlichen Villa des pensionierten Rittmeisters Graf Schrank-Rettich gefahren. Die älteste Tochter des Grafen hatte drei Wochen nach Kriegsausbruch allen besseren Häusern ein Rundschreiben zukommen lassen, in dem sie die heranwachsenden höheren Töchter aufforderte, dem Vaterland »mit Verve« auch die weibliche Arbeitskraft zu Verfügung zu stellen und den Ruhm des kommenden Sieges nicht alleine den Männern zu überlassen. Sie stellte ihren Salon zur Verfügung, damit dort in gemeinsamer Arbeit und bei vaterländischen
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