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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden
Autoren: Simonetta Greggio
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Gesichtszüge. Im Mundwinkel hatte er einen Krümel. Ich versagte mir, ihn wegzuwischen, und befreite mich aus seinem Griff.
    »Deine Finger sind voller Honig. Du schmierst ihn überall hin.«
    »Es geht nicht anders, wenn man Honig isst.«
    Ich betrachtete ihn, als er sich die Hände wusch. Den mageren Rücken, die Haare, die in der Mitte gescheitelt waren, den schwarzen Stern in der Nackengrube, den Flaum in der Lendengegend. Er ging hinaus und kam mit Geschirr zurück, stellte es in der Spüle ab und drehte den Hahn voll auf, das Wasser spritzte überall hin.
    Ich drehte den Hahn etwas zurück.
    »Du solltest sparsamer mit dem Wasser umgehen. Es ist kostbar.«
    Er schüttelte den Kopf und brummte:
    »Alte Nervtante.«
    Mit der Kaffeetasse in der Hand ging ich wieder in mein Zimmer hinauf.

     
    An diesem Morgen war ich, kaum erholt nach einem kurzen unruhigen Schlaf, noch eine Weile im Bett geblieben, um der Brise in den Bäumen zu lauschen, dem Plätschern des Bachs. Im Sommer kann ich anhand der Geräusche die Uhrzeit treffsicher bestimmen. Um vier: schwarze Stille. Die ersten Vogelstimmen gegen fünf. Kurz danach die Explosion. Das Fenster war offen, das Licht drang durch die Gardinen, die kaum ein Luftzug bewegte. Ich konnte nur mühsam schlucken, mein Rachen brannte. Eine Art Schwindel erfasste mich unter der Dusche. Ich lehnte mich gegen die Wand. Ich zitterte. Schauder durchliefen meine Wirbelsäule, langsam, fast angenehm. Ich benötigte kein Thermometer, um zu wissen, dass das Fieber anstieg.
    Als ich wieder in die Küche hinunterging, räumte Gio, nach wie vor mit nacktem Oberkörper, das Geschirr ein. Ich rief seinen Namen, und er schlurfte träge auf mich zu. Mir war kurz entfallen, was ich ihm sagen wollte, und ich fragte ihn, wann er eigentlich so groß geworden war. Ob es auf einen Schlag passiert war.
    »Sechzehn Zentimeter im letzten Jahr«, verkündete er voller Stolz. Ich hielt ihn fest, verunsichert suchte ich nach Worten, vergeblich. Als ich schließlich zu sprechen anhob, fiel er mir ins Wort:
    »Ist es schon so weit? Du schickst mich nach Hause?«
    Ich wandte den Blick ab und nickte. Er stöhnte, ein langes theatralisches Stöhnen, und meinte, er müsse daheim anrufen. Ich antwortete, er wisse ja, wo das Telefon sei. Er löste sich sanft, ohne mich anzusehen, ohne sich umzudrehen.

I ch habe mich aus einem Gefühl der Auflehnung für diesen Beruf entschieden. Ich kann kein Leiden ertragen, vor allem wenn es sich um wehrlose Wesen handelt. Als ich die Entscheidung traf, war ich in dem Alter, wo man nichts über sich und über die Welt weiß, aber die Instinkte, sogar Vorahnungen, zuweilen verblüffend klar sind. Papa hatte mir zu meinem zehnten Geburtstag eine dicke Schildkröte geschenkt. Der kahle Greisinnenkopf, die Pupillenschlitze, der Gesichtsausdruck eines gutmütigen Teufels faszinierten mich. Ich hockte mich vor sie hin, um zu beobachten, wie sie ihren Salat knabberte, ich kannte die schattigen Winkel, in die sie sich verkroch, um reglos ins Leere zu starren; sie schien einer anderen Welt zu lauschen. Eines Tages, bei Renovierungsarbeiten, blieb die Schildkröte in einer Betonbodenplatte stecken, die man gerade gegossen hatte. Sie hielt den Kopf gereckt und schlug mit den Beinen gegen die Masse an, die sich um sie herum verdichtete, so versuchte sie lange, sich freizukämpfen. Die Spuren dieses Kampfes breiteten sich in konzentrischen Kreisen aus, als ich dazukam, war es zu
spät, um sie dort herauszuholen. Da ich nicht wusste, wie ich sie retten sollte, hatte ich mich auf den Stufen der Vortreppe eingerollt, ohne Hilfe zu holen, denn ich wusste bereits im Vorfeld, dass sie zwecklos war. Damals beschloss ich mit der Unbeugsamkeit kindlichen Eifers, mein Leben den Tieren zu widmen. Was ich über meinen Beruf weiß, verdanke ich Thomas d’Aurevilly - nicht das Wissen an sich, sondern den Umgang damit. Er hat mich gelehrt, ehernen Überzeugungen zu misstrauen, Gewissheiten immer wieder zu hinterfragen. Nicht in den Refrain einzustimmen »Früher war alles besser«, sondern anzuerkennen, dass die modernen Zeiten bessere Hygiene bieten und der - so ungeheuer profitable - Wettbewerb der Pharmaunternehmen zu mehr Gleichheit führt. Durch ihn habe ich begriffen, dass alles sich verändert, dass alles sich weiterentwickelt. Man braucht nur zu warten.
    Die Grundlage unserer Arbeit ließ sich seiner Ansicht nach in vier Punkten zusammenfassen: wissen, handeln, wissend handeln und das Wissen
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