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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden
Autoren: Simonetta Greggio
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Matratzenecken gestreckten kräftigen Beine hoben sich vom weißen Laken ab, es waren die langen Beine eines Jungen, der gern Ski fährt, rennt, Fußball spielt. Waden und Knöchel waren behaart, während sein restlicher glatter Körper einen androgynen Reiz bewahrte. Seine großen Füße ragten über das Bettgestell hinaus. Gios Gesichtszüge waren regelmäßiger als die von Raphaël, ohne die Asymmetrie, die seinem Vater etwas Faunartiges verlieh. Von Micol hatte er die sehr weiße Haut, auch die Haselnussaugen. Aber diese Anmut, dieses ausgewogene Verhältnis von Kind- und Erwachsensein gehörten ihm allein. Als hätte er meinen Blick gespürt, packte er einen Deckenzipfel, wickelte sich in die bereits arg verdrehten Laken und drehte sich auf die andere Seite.
     
    Ich war nie eine Heilige, ich bin jetzt keine und war es auch damals nicht. Mein Sexualleben unterlag, den Umständen entsprechend, großen Schwankungen, mal grenzte es an Ausschweifung, meistens jedoch an Askese. Aber selbst wenn meine Lebensweise mir eine körperliche und geistige Freiheit gewährt hatte, die für Frauen
ungewöhnlich ist, hatte ich mir nichts weiter vorzuwerfen. Wobei mein Standpunkt recht klinisch war und bleibt: Ich denke, wenn Frauen, genau wie Männer, nur nach einem Orgasmus Kinder kriegen könnten, wäre die Welt deutlich weniger bevölkert. In meiner autarken Einsamkeit fehlte mir nichts außer den Händen eines Mannes auf meinem Körper und auch das eher selten.
    Ich hätte mich vermutlich mit kostenpflichtigen sexuellen Dienstleistungen begnügt, wenn das möglich gewesen wäre, in Ermangelung dessen behalf ich mich eben anders. Bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr mochte ich Sex, weil ich Männer mochte. Danach war es umgekehrt: Ich ertrug die Männer, weil ich erkannt hatte, dass ich Sex mochte. Ich konnte ganze Monate zubringen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dann wurde ich plötzlich von einem unerbittlichen Heißhunger gepackt. In diesem Fall genehmigte ich mir ein Wochenende in einer Stadt, die weit genug von meiner Wirkungsstätte entfernt war, um von niemandem erkannt zu werden. Dort klapperte ich schummrige Bars ab, trank ein paar Gläser, ließ mich treiben. Den Hunger stillte ich etwas im Lauf einer gestohlenen Nacht mit einem Gelegenheitsliebhaber. Es war ein lachhafter Trost: Wie oft hatte ich die Augen geschlossen und einen bestimmten Namen gerufen, immer denselben.
    Danach beeilte ich mich, es wieder zu vergessen. Ich wusste, dass sich die eine oder andere Spritztour herumgesprochen hatte, aber die Gerüchte verstummten von allein, weil ihnen Nahrung fehlte. Ich dachte, dass die Bauern, die Züchter wussten, worauf es ankam: auf meine
Selbstlosigkeit. Bei Wind und Wetter stand ich ihnen zur Seite, ohne Mann oder Kinder, die das erschwert hätten, seit über zehn Jahren hatte ich keinen Urlaub genommen und hasste Sonntage. Alles andere dürfte für sie belanglos sein, dachte ich.
    Was sich auch wieder als Illusion herausstellen sollte.

B ei der Gerichtsverhandlung hat man mir eine Frage gestellt, die ich unmöglich beantworten konnte. Ich wurde gefragt, ob Gio in meinen Augen ein Kind sei. Daraufhin habe ich geschwiegen. Würde man mir jetzt dieselbe Frage stellen, würde ich mit Ja antworten. Ja, er war noch ein Kind, aber schon ein Mann, ein alter Herr auch, wie manche Menschen es ein Leben lang sind. Vollständige Wesen. Wie d’Aurevilly, der Chef, oder meine Großmutter väterlicherseits, die starb, als sie beim Aprikosenklauen von den unteren Baumästen fiel, mit einundachtzig Jahren.
     
    »Ich hab uns Frühstück gemacht! Mit … tja … Toasts … aber die sind wohl zu lang im Toaster geblieben.«
    Gio war schon geduscht, nur mit einer Schlafanzughose aus roter Seide bekleidet, die am Saum ausgefranst war, und stand mit dem Bratenwender in der Hand vor eine Pfanne mit Speck. Der Tisch war gedeckt, die Teekanne randvoll und das Brot verkohlt.
    »Wie geht’s dem Knirps? Gut geschlafen?«
    »Wie ein Stein. Was machen wir heute?«

    Ich antwortete nicht. Ich trinke morgens keinen Tee, ich esse keine Toasts. Ich kippe zwei Tassen schwarzen Kaffee hinunter und lese eine alte Zeitung. In aller Stille.
    Gio hatte das Radio angemacht; er trank seinen Tee und biss in schwarze Brotscheiben. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Als ich mich umdrehte, stieß ich mit ihm zusammen. Er packte mich am Arm.
    »Ich bin nicht ›der Knirps‹, Emma. Ich heiße Giovanni.«
    So nah besehen, verwischten seine
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