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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden
Autoren: Simonetta Greggio
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handelnd weitergeben.

P ontarlier im Jura, an einem Novemberabend. Vom Wind gebeutelt, der durch die Kleidung drang, kam ich mir verlassen und albern vor. Fehl am Platz. Der einzige Mensch, der noch am Bahnsteig stand, war ein alter Mann, er beobachtete mich und zwirbelte dabei die Enden seines langen Schnurrbarts. Während Monsieur d’Aurevilly mich stumm in Augenschein nahm, sah ich ihm wachsende Ratlosigkeit an. Fast hörte ich ihn denken: Was soll ich denn damit anfangen, verflucht? Mit diesem Strich in der Landschaft! Nichts als Haut und Knochen.
    Beim Händeschütteln starrten wir uns an, beide gleichermaßen niedergeschlagen. Sein Händedruck war trocken und knorrig. Ich hätte ihn gern gefragt, ob er mit dem Autor der Teuflischen verwandt war, aber es fiel mir partout nicht ein, ob der Schriftsteller wirklich so geheißen hatte oder ob es sich um ein Pseudonym handelte. Schweigend waren wir zu seinem Auto gelaufen, ich mit Tasche und Köfferchen, er seinen weißen Schnurrbart mit den vergilbten Enden befingernd. Ich fröstelte so
sehr, dass mir die Zähne klapperten. Die Stimmung war düster. Und es war zu kalt.
    Es sollte noch viel schlimmer werden.
    Im Dezember kam vor meinen Augen ein Mann um. An diesem Tag war ein Schneesturm ausgebrochen, die Böen waren von ungeheurer Wucht, eine böse Macht, die einem die Kleidung vom Leib zerrte, um das Fleisch aufzureißen und hineinzubeißen. Der Bauer hatte, während er am Rand des Weges zu seinem Stall auf uns wartete, unter einer Kiefer Schutz gesucht, als ein besonders heftiger Windstoß am Baum rüttelte. Der Schnee, der den Baum bedeckte, fiel auf den Mann und begrub ihn unter sich. Als es dem Chef und mir endlich gelang, den Bauern hinauszuziehen, war er bereits tot, Genickbruch.
    Im Frühling sah ich zwei mumifizierte Gämsen, gut zwei Meter über meinem Kopf, wie erhängt baumelten sie vom Astwerk einer Tanne. Sooft ich den Stamm auch umrundete, konnte ich mir nicht erklären, wie sie dort hingekommen waren. Der Chef hat es mir dann erklärt. Die Tiere nagen gern an der Baumrinde, sie stemmen sich auf die Hinterbeine und strecken den Kopf so weit wie möglich nach oben. Offenbar hatten die mit Schnee beschwerten Zweige sich gelöst und waren auf einmal hochgeschnellt, dabei erhoben sie auch die beiden Tiere, die im Astwerk gefangen waren. Danach war der Schnee geschmolzen, und die Gämsen waren oben stecken geblieben und schaukelten nun im Wind.
    Diese ersten Monate waren hart gewesen, die kältesten meines Lebens. Ich trug mehrere Kleidungsschichten
übereinander, schwitzte in den Ställen, fror aber, sobald ich wieder hinausging. Im Frühling hatten Regen und Wind das triste Städtchen heimgesucht sowie die Umgebung, die schönen, schwarzen, strengen Berge.
    Während meiner Lehrzeit verbrachte ich keinen einzigen Tag ohne meine Barbourjacke. Die Arbeit begeisterte und erschöpfte mich. Ich empfand, so jäh wie verblüffend, eine wahre Leidenschaft für Thomas d’Aurevilly, einen Arzt der alten Schule, einen Mann, dessen Instinkt auf Anhieb zur Schmerzensursache führt. Er hatte die Gabe, den Tieren zuzuhören; unter allen Klagelauten erkannte er gleich den, der ihm die Diagnose ermöglichen würde. Dem geringfügigsten Leiden begegnete er mit Respekt, er brachte Mitgefühl für das verzweifelte Schweigen der Tiere auf, in seinen Augen und Händen lag Sanftheit. Er war in der Lage, ein rasches Ende zu setzen, ohne zu zögern und ohne zu zittern, wie der Engel des Todes es tun sollte, wenn Gott existierte und mit uns ein wenig Erbarmen hätte. Ich folgte ihm auf Schritt und Tritt, lernte von seinen Handlungen mehr als von seinen Worten, lernte, die Müdigkeit zu überwinden, mich weder über die Arbeitszeiten noch über widrige Witterung zu beschweren, lernte vor allem das Hören. Hören ist in dieser lärmenden Welt nicht mehr geläufig. Es ist das Erste, was d’Aurevilly mir beigebracht hat. Eine einzelne Stimme wahrzunehmen, ihren Ausdruck zu verstehen. Er führte das nicht näher aus, aber ich konnte aus seinen knappen Erläuterungen viele weitere Schlüsse ziehen. Obwohl ich selbst alles andere als gesprächig war, hatte ich in ihm meinen Meister gefunden.
    Der Winter verging wie im Flug. In Gedanken kehrte ich nur sehr flüchtig zu meinem früheren Leben zurück. Wenn mal Erinnerungen an Raphaël und Micol, an Gio und die kleinen Mädchen aufkamen, verdrängte ich sie. Ich hatte ihnen bloß ein paar Geburtstagsgrüße und eine Weihnachtskarte
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