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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden
Autoren: Simonetta Greggio
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bis zum Schluss, aber er fiel mir jedes Mal ins Wort, um mir eilig die Pointe vor den Latz zu knallen:
    »Sie wollen sehen, ob die Protagonisten am Ende heiraten.«
    Seine Witze betrübten mich zwar, aber dafür entzückten mich seine Anekdoten. Und so bat ich ihn stets um neue. Er erzählte mir von den Wurmmitteln, die man aus männlichem Farn gewinnt, widerliche Mixturen, die kein Percheron-Pferd schlucken will, davon, wie er einmal in einen stockdusteren Stall geriet, wo der Bauer bewusstlos auf der Sau lag, oder ein anderes Mal Flöhe auf das Bett einer Frau gehüpft waren, die sich nicht gedulden wollte, bis ihr Geliebter geduscht hatte. Gelegentlich lachten wir gemeinsam, als wären wir gleich alt und vollkommen unbeschwert.
     
    Eines Morgens wartete ich im Café gegenüber vergeblich auf ihn. Mitten in der Nacht hatte ihn ein Rettungswagen in das kleine städtische Krankenhaus gebracht. Ich sah ihn dann erst in einem Zimmer wieder, totenbleich, so weiß wie die Wände und die Laken, im künstlichen Schlaf wirkten die geöffneten Hände wie zurückgelassen. Etliche leere und trübe Stunden blieb ich an
seinem Bett sitzen. Bei Sonnenuntergang war er noch nicht aufgewacht. Als ein rosaroter Strahl ins Zimmer drang, legte ich den Daumen an die Innenseite seines Handgelenks. Das Blut pulsierte unter der Haut. Da musste ich an die Blütenblätter einer welken Blume denken, und ein unermessliches Gefühl von Einsamkeit - mich betreffend und ihn - stieg in mir auf. Seine Faust hatte sich geschlossen, langsam öffnete sie sich wieder, tastete blind nach meinen Fingern. Aber auch bei Sterbenden muß man gewesen sein, muß bei Toten gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und den stoßweisen Geräuschen , wieder Rilke, wie zu Zeiten, als wir ihn gemeinsam lasen. Als es Nacht wurde, schickte mich die Krankenschwester weg.
    Am folgenden Tag, einem Sonntag, an dem ich kaum etwas anderes zu tun hatte als zu warten, ging ich im Wald spazieren. Ich hatte das Bedürfnis, mich zu verausgaben, möglichst nicht nachzudenken. Nach einigen Stunden erreichte ich den See Saint-Point, einen dunkelblauen Diamanten in grüner Waldschatulle. Ich zog mich bis auf die Unterhose aus - an diesen Gestaden gab es außer mir niemanden - und tauchte ins Wasser ein, das so kalt war wie ein Gebirgsbach. Ich schwamm so schnell ich konnte, um mich aufzuwärmen, dabei gelangte ich zu einer künstlichen Insel, auf der ich mich ausstreckte und dann einnickte. Als ich aufwachte, bedeckte eine Schicht dicker schwarzer Regenwolken den Himmel. Die wenigen Schwimmzüge, die mich vom Ufer trennten, waren eine Qual. Aus jähem Überdruss hatte ich mir fast gewünscht, es nicht zu schaffen; mich
treiben zu lassen, zu versinken, nicht länger zu kämpfen. Danach nahm ich es mir übel. Ich war wie eine trockene Alkoholikerin, die genüsslich an einem Glas Alkohol schnuppert.
    Am Abend teilte man mir im Krankenhaus mit, dass Monsieur d’Aurevillys Zustand unverändert sei und er niemanden empfangen könne. Niemanden! Ich war die Einzige, die an seinem Bett gewacht hatte. Auf dem Rückweg musste ich das Auto am Straßenrand anhalten, weil ich vor lauter Tränen blind war. Ich schluchzte hemmungslos, den Kopf auf dem Lenkrad, weinte um mich, die verlassen und ohnmächtig war, weinte um ihn, weinte wegen der Einsamkeit, die er als selbst gewählt verteidigte, obwohl man dazu verdammt war. Ich hatte Angst vor der Zukunft. Ohne den Chef wusste ich nicht, was ich tun sollte, war ich mutlos. Ich konnte nicht allein weitermachen, wollte es auch gar nicht, jetzt, da der Herbst bereits begonnen hatte und der Winter nahte, viel zu schnell nahte. Die Tiefkühlpizzas um Mitternacht, das Raclette-Essen am Samstagabend, der Skilanglauf am Wochenende, das alles war sinnlos ohne d’Aurevilly. Ich war nicht für die Berge gemacht, für die vereinsamten Holzfäller, den verheirateten Notar und den verheirateten Arzt des Städtchens. Das alles hielt ich nur durch, weil er bei mir war, mir Anleitung gab, mich mit Engelsgeduld in diesen Beruf einwies.
    Einige Wochen später entließ man ihn endlich aus dem Krankenhaus, aber wir wussten bereits, dass unsere gemeinsame Zeit vorbei war. Als er mich zum Bahnhof begleitete, versuchte d’Aurevilly nicht einmal, seine
Traurigkeit zu verbergen. Noch vor der Abfahrt des Zuges wandte er mir den Rücken zu und ging weg, nachdem er mir Glück gewünscht hatte. Ich blieb mit unnütz erhobenem Arm auf dem Bahnsteig zurück und
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