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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden
Autoren: Simonetta Greggio
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A uch heute Nacht schlafe ich nicht, wie so oft. Ich blicke zurück und denke wieder einmal an uns, daran, wie es mit uns hätte sein sollen, wie es mit uns gewesen ist. Ich versuche zu begreifen, was uns dazu gebracht hat, so zu handeln, wie wir es getan haben. Wann das Leben uns die Wahl ließ und warum wir sie verschmäht haben. Ein Richtungswechsel hätte aber bedeutet, sich selbst zu verleugnen. Das haben wir nicht getan.
     
    Am Tag, als alles anfing - besser gesagt, von Neuem anfing -, ahnte ich nicht, dass noch vor dem Abend jemand, der geradewegs dem Herzen meiner Geschichte entsprungen war, gleich einem Vipernnest in meinem Winterholzvorrat, mit der Fingerspitze meine Wange streifen würde, und diese einfache Geste sollte sich, so unentrinnbar wie eine Zeitbombe, nicht allein auf meine Zukunft auswirken, sondern auch auf meine Sicht der Vergangenheit.
    Es war im Juni, inzwischen ist das etwas über vier Jahre her. An welchem Tag genau, weiß ich nicht mehr. Alles
andere weiß ich in- und auswendig, alles andere werde ich nie vergessen. Bloß der Tag fällt mir nicht ein, selbst wenn ich in einem Kalender nachsehe. Sagen wir zum Monatsanfang, weil das Kalben, das im Januar einsetzt, in der Regel mit dem Weidebeginn im April aufhört, und das trächtige Rind, dessentwegen man mich gerufen hatte, sehr spät dran war.
    Als ich im Bauernhof ankam, lugten bereits zwei Beine heraus, aber das Becken war zu eng, um das ganze Tier durchzulassen. Es war zu spät für einen Kaiserschnitt, zu spät für eine Rettung des Kalbs. Ich hatte die Embryotomie der toten Frucht so schnell wie möglich ausgeführt, mir brannten Augen und Wangen, mit Schulter und Arm wischte ich darüber und dachte dabei an die buschigen Augenbrauen vom Chef, die jeden Schweißtropfen schluckten. In Fällen wie diesen fehlte er mir schrecklich.
    Der Rest des Tages war ruhig verlaufen, aber das Gewitter lag schon in der Luft, als ich den Anruf eines jungen Viehzüchters erhielt. Eine von seinen Milchkühen war nicht zum Melken heimgekehrt. Wir hatten sie auf der Wiese liegend gefunden, reglos, das Atmen fiel ihr schwer. Im Licht der Autoscheinwerfer legte ich einen mit Elastoplast befestigten Katheter an die Jugularvene, dann spritzte ich Herzmittel und Vitamin C. Ich sah zum Himmel, wo sich schwarze Wolkenmassen sammelten und von innen her aufloderten. Die Gewitterfront stieß die ersten Böen hervor, so heftig wie Schläge auf die Schulter. Die Infusion floss langsam durch den Tropf. Ich durchquerte die Wiese ein weiteres Mal, um eine wasserdichte Decke aus dem Auto zu holen. Der Bauer
hatte mich unentwegt angesehen, als ich auf ihn zukam und sie ihm reichte. Ein Lächeln, das erste, zeigte sich auf seinem Gesicht. Sehr tief liegende Augen, so schwarz, dass die Pupille mit der Iris verschwamm. Hohle Wangen, Hemd und Hose schlotterten um ein schmächtiges Gerippe. Offenbar kümmerte sich niemand um ihn. Einsamkeit auf dem Land. Verödung. Es hatte gerade zweiundzwanzig Uhr geschlagen, als ich durch das schlafende Dorf fuhr. Ich öffnete das Schiebedach und atmete in vollen Zügen die feuchte Luft ein, die nach frischen Platanentrieben duftete, diesem strengen Geruch, der dem von Sperma auf seltsame Art ähnelt. Das Gefühl, hinter der taubeschlagenen Windschutzscheibe allein auf der Welt zu sein.
    Als ich nach Hause kam, war ich so erschöpft, dass ich trotz quälenden Hungers nur noch davon träumte, unter die Dusche und dann ins Bett zu gehen. Beim Öffnen des Gatters war mir das Licht in der Küche aufgefallen. Am Morgen war es noch so dunkel gewesen, als ich aus dem Haus ging, dass ich womöglich vergessen hatte, es auszuschalten. Hinter meinen Augen hämmerten diffuse Kopfschmerzen. Den Nacken an die Kopfstütze gelehnt, fuhr ich mir mit beiden Händen übers Gesicht und drückte mit den Fingern gegen die Schläfen, bevor ich aus dem Auto stieg. Ich hatte weiche Knie. Ich war völlig erledigt. Die Tür war nicht abgeschlossen. Das Adrenalin schoss mir durch den ganzen Körper, mit dem gleichen Schauder, den man verspürt, wenn man eine Stufe verfehlt und sich mit knapper Not am Geländer festhalten kann, bevor man die Treppe hinuntersegelt.
Im Haus hatte sich nichts gerührt, kein Laut drang aus der hell erleuchteten Küche.
    Dann tauchte im Gegenlicht eine Gestalt auf und bewegte sich stumm auf mich zu. Ich konnte gerade noch schlucken, als mich jemand in die Arme schloss und so fest an sich drückte, dass es mir den Atem nahm.

M it noch
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