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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden
Autoren: Simonetta Greggio
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geschickt. Mit meinem früheren Ich verband mich nichts mehr, nicht einmal eine Adresse oder eine Telefonnummer. Die Erleichterung, die es für mich bedeutete, unter Leuten zu leben, die mich nicht kannten, denen ich im Übrigen auch keinen Anlass zu einer echten Annäherung gegeben hatte, war so groß, dass ich den Eindruck hatte, völlig genesen zu sein, von der Last aller Demütigungen befreit, der Armut entronnen, über den Kummer hinweggetröstet, der mich in den letzten Jahren bedrückt hatte. Mit zweiunddreißig ist es noch nicht zu spät für einen Neuanfang. Ich genoss meinen neuen Status, so bedeutend wie der eines praktischen Arztes in den Bergen, wo die Tiere den gleichen Wert haben wie Menschen, manchmal sogar mehr. Ich lernte viel. Außerdem führte ich wieder Tagebuch, d’Aurevilly regte mich dazu an. Seine eigenen Notizhefte widersprachen seinem Erscheinungsbild: elegant, gepflegt, die Schrift nach rechts geneigt, eine vornehme Schreibweise, Erbe Buch führender Offiziere.
    Wie er mir erzählte, hatte er in diesen Heften anfänglich nichts anderes festgehalten als den reinen Tagesablauf, doch sehr bald fügte er in einem bunten Durcheinander seine Betrachtungen über die Welt, die Menschen und das Leben hinzu. Einmal hatte er sogar daran gedacht, das Ganze einem Verleger zu schicken, unter dem
Titel Tagebuch eines Landtierarztes. Dann hatte er es sich anders überlegt, als ihm bewusst wurde, dass sich außer ihm niemand im Wust seiner Aufzeichnungen zurechtfinden würde. So stellte er es jedenfalls dar. Ich für meinen Teil spürte, dass zwischen den Zeilen zu viel Persönliches steckte, dazu eine Bitternis, die - aber vielleicht bildete ich mir das nur zu gern ein - mit einer enttäuschten Liebe zusammenzuhängen schien.
    Wie d’Aurevilly hatte ich immer mein Notizheft in der Tasche sowie einen Gedichtband oder einen Roman. Damit vertrieb ich mir die Zeit in den langen Nächten, wenn ich in den Schaf-, Kuh- oder Pferdeställen wachte. Wir mochten dieselben Dichter, Verlaine, Rimbaud, Apollinaire, die Klassiker, die der Chef auswendig konnte, aber auch René Char, Éluard, Rilke. Er hatte mich mit sanftem Spott bedacht, als ich ihm meine Schwäche für Jack London beichtete, aber er teilte meine Vorliebe für Thoreaus Walden , aus dem wir uns gegenseitig Passagen vorlasen.
    Eines Tages, als ich gerade seinen Pick-up steuerte - der Chef hatte mir vom ersten Tag an die Schlüssel überlassen und schien froh, diese Bürde los zu sein -, unterwegs zu einem No man’s land , das dreihundert Kühe und fünfzig Seelen zählte, über Stock und Stein und durch halsbrecherische Kurven, unterzog er mich einem Verhör, wollte wissen, warum ich in meinem Alter noch im ersten Assistenzjahr war. Ich wich der Frage aus. Er setzte über Umwege zum nächsten Angriff an.
    »Weißt du, Emma, als ich anfing, gab es landesweit nicht mehr als vierzig weibliche Tierärzte. Damals bestand
die Hälfte oder vielmehr drei Viertel der Praxis aus Landvieh, ein Viertel Haustiere. In der Nachkriegszeit hatten es Katzen und Hunde schwer. Alles drehte sich um die Nutztiere, Kühe und Pferde, Hühner und Schafe. Beim Studium mussten wir uns tatsächlich mit sechzig verschiedenen Arten von Hufbeschlägen befassen. Das wirkt jetzt alles so vorsintflutlich … Später, in den Sechzigern, tauchten unter sechstausend Tierärzten plötzlich achtzig Frauen auf, woher auch immer. Obwohl es diesen gnadenlosen Numerus clausus gab … Weißt du, was wir denjenigen nachsagten, die durch die Prüfungen rasselten?«
    »Ich glaube, es ist bis heute noch immer derselbe uralte Witz, Chef … sie werden Ärzte, richtig?«
    »Ja. Kurz und gut, die Zahl der weiblichen Tierärzte ist offenbar exponentiell gestiegen, 1984 waren es bereits zweihundertzehn. Und was haben sie wohl gemacht, nachdem sie die Uni beendet hatten?«
    »Was?«
    »Sie haben geheiratet. Meistens Tierärzte.«
    »Sie bluffen, Chef … wie viele davon genau?«
    »Hundertfünfundvierzig.«
    »Was wollen Sie mir damit sagen?«
    »Dass ihr euch selbst der schlimmste Feind seid.«
    Wir waren fast angekommen. Ich hoffte, dass er mich in Ruhe lassen würde, aber er nahm den Faden wieder auf.
    »Warum hast du denn noch keine Praxis oder kein eigenes Wirkungsgebiet? Was ist passiert, wo kommst du her? Was hast du hier mit mir zu schaffen, in deinem Alter?«

    »Was soll das?«
    Nach einer Reihe von Haarnadelkurven, die ich für eine Pause nutzte, sagte ich: »Und was ist schon dabei, einen
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