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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden
Autoren: Simonetta Greggio
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seiner Wahrnehmung nur zu diesen Legenden zählen, die im Familienkreis entstehen. Ein paar Fotos, ein paar Videoaufnahmen, Kommentare, die im Lauf der Zeit fallen. Ich hatte nicht den Mut gehabt, ihn zu befragen. Ich dachte wieder an die Jahre vor seiner Geburt, an das, was uns so flüchtig erscheint, aber dann auf schwer fassbare Weise ewig anhält.
     
    An ihrem Hochzeitstag stellte Micol ihre langen Beine mit den knochigen Knien zur Schau, die schon recht rundliche Taille von einem mädchenhaften Babydoll-Kleid kaschiert, das über und über mit Schwanenfedern besetzt war. Auf schwindelerregenden Absätzen postiert, lächelte sie wie eine Katze mit Grübchen und hatte den einfältigen sowie unglaublich erotischen Ausdruck einer Puppe, die von einem durchgeknallten Couturier eingekleidet wurde. Ich hatte mein übliches Outfit aus Jeans, Boots, Hemd und Lederweste gegen eine Tunika und eine Hose mit pseudo-indischer Anmutung eingetauscht. Für Ende April war es zu heiß. In Paris sind die Übergänge von einer Jahreszeit zur nächsten nicht so wie andernorts, manchmal sind es nur Fieberanfälle, eisige oder brennende Abschnitte, die sich keinen Deut
um den Kalender scheren. Die Zeremonie, schlicht und chic, war nach dem Weggang der Familienangehörigen in eine denkwürdige Sause ausgeartet. Jemand hatte ein wildes Picknick im Park Buttes-Chaumont vorgeschlagen.
    Ein Dutzend Freunde aus dem engsten Kreis waren losgezogen, um Champagner, Pizza und sonstiges Knabberzeug zu kaufen und Decken und Tücher zu holen. Wir hatten gesungen, Verstecken gespielt, gegessen, getrunken. Der Abend brach an, aber niemand hatte Lust, nach Hause zu gehen. Wir ließen uns im Park einschließen. Die Nacht erhitzte sich zunehmend durch Geflüster und Kussgeräusche, ersticktes Gelächter und leise Unterhaltungen, die von Eulengeschrei unterbrochen wurden. Bei Morgenanbruch sprangen wir über die noch verschlossenen Parkgitter. Verstrubbelt, mit roten Augen und einem ziemlichen Schwips hatte Micol Federn gelassen, ihr Babydoll war vom Moos grün verfärbt; ein Blatt und ein paar Zweiglein waren am Schleier, den sie hinter sich herflattern ließ, hängen geblieben. Ihr nagelneuer Ehering, mit winzigen Brillanten besetzt, funkelte. In diesem Moment waren wir uns alle sehr nah, wie Kinder, die zum Baden zusammen in eine enge Wanne gezwängt werden.
    Zwei Monate danach war Gio zur Welt gekommen, so mühelos, wie man einen schneebedeckten Abhang hinuntergleitet. Und noch am selben Abend hatte sein Vater mich gebeten, ihm zu verzeihen. Aber was sollte ich ihm verzeihen?

     
    Gio hatte mich gefragt, ob er mein Omelett aufessen dürfe. Ich schob ihm den Teller hin und goss mir noch ein bisschen Whisky ein, den ich in einem Zug austrank. Der Schluck stieg mir in die Nase und füllte meine Augen mit Tränen. Gio hörte zu kauen auf und sah mich an, dann schluckte er den Bissen hinunter und ließ die Hand über den Tisch gleiten, um meine zu berühren, aber ich zog sie weg.

D ie Stunden verstreichen in einem eigentümlichen Verhältnis von Zeit und Raum, wenn man in die Vergangenheit eintaucht. Ich sehe mich im Lauf der Jahre, eine Reihe von Matroschkas, die kleinste, glänzend neu, in weiter Ferne, die letzte steht noch mit ihrem abgeblätterten Lack. Jetzt wird es nachts kühl, der Herbst hat schon längst begonnen. Ich wickle mich noch fester in die Decke und zünde mir eine weitere Zigarette an.
     
    Am Tag nach seiner Ankunft hatten Gio und ich uns bis spätabends unterhalten, wir saßen auf dem Brückchen neben dem Haus, unsere Füße hingen über die Angelrollen, ein paar Algenstränge wirbelten in der Strömung umher. Eine leichte Bewegung über unseren Köpfen ließ uns nach oben blicken und einen Eisvogel sehen: ein Hauch von Blau, Rot, Grün, eine Flamme, ein quecksilbriges Etwas, ein Flügelschlag, schon war er weg. Eine leicht schlammig riechende Brise hatte die Mücken unschädlich gemacht, Libellen kräuselten die Wasseroberfläche, während die Dunkelheit uns in
einem chinesischen Schattentheater nach und nach einhüllte und wir in ein Frage- und Antwortspiel versanken, das so anstrengend war wie die »Warums« seiner Kindheit. Es wäre naiv gewesen, seine Rede für spontan zu halten. Er hatte sie vorbereitet, vermutlich im Zug, wer weiß, vielleicht sogar, bevor er ausgerissen war. »Ich will für meine Zukunft kämpfen und für die, die nach mir kommen werden, im Namen der Tiere und Pflanzen und aller Arten, die täglich auf
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