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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden
Autoren: Simonetta Greggio
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Jahre später schlug ihr Sohn, der eines Abends unerwartet bei mir aufgetaucht war, Eier in die Pfanne und fragte mich, was wir denn jetzt machen würden, während das erste Gewitter des Sommers sich über einen schwarzen Himmel wälzte, so drückend schwer, dass man sich voller Ungeduld wünschte, es möge endlich ausbrechen.
     
    Manche Ereignisse, die mehrere Jahrzehnte zurückliegen, sind so frisch, als zählten sie erst wenige Stunden. Manche Minuten prägen sich für immer ins Gedächtnis. Ich sitze im Dunkeln, bei offenem Fenster, in eine alte Decke gewickelt und mit einem Glas Whisky in Reichweite, und denke an das Paris von damals zurück, an das schwarze, verfallene und feuchte Marais der Achtzigerjahre. Lange haben Micol, Raphaël und ich im Herzen dieses Viertels zusammengewohnt. Vier Salons mit Kaminen in einer Zimmerflucht und eine verrußte Küche, hohe Decken und abgenutzte Böden. Dieser unglaubliche Ort, von einem Freund meiner Eltern untervermietet, der zu anderen Ufern aufgebrochen war, bildete eine
Nische des Widerstands, laut 1948er-Mietgesetz war das Mietverhältnis unbefristet, ein Zustand, den Anwaltsbriefe beliebig verlängerten. Die Fenster waren mit Papyruspflanzen voll gestellt. Fleckige Spiegel, so riesig, dass man den Eindruck hatte, sie seien vor Ort montiert worden, nahmen in der Wohnung mehrere Wände ein. Die breiten Kamine mit Marmoreinfassungen voller Haarrisse heizten auf Hochtouren bis Ende Mai, wenn schlagartig die Hundstage einsetzten.
    Ich hatte meine Dachkammer am Bois de Vincennes aufgegeben und ging nicht mehr zur Uni. Vier Abende die Woche jobbte ich in einer Bar und verbrachte so viel Zeit wie möglich bei Mama, um Papa zu entlasten und den Zeitplan der Krankenschwester. Ohne groß nachzudenken, bewegte ich mich in der eigentümlichen Atmosphäre, die inzwischen entstanden war. Unser Zusammenleben hatte sich ganz selbstverständlich ergeben, und auch wenn Raphaël und Micol beide ihre Bude behalten hatten, aßen wir abends immer bei mir, zu dritt oder mit Freunden, und verbrachten bei mir die meisten Nächte. Micol war hinreißend, blond und verzogen. Sie war jünger als Raphaël und ich, studierte Kunstgeschichte und ließ sich gern auf etwas schräge Abenteuer ein. Wir schliefen in Räumen, die wie Berberzelte hergerichtet waren, auf Lagern, die die Salons in ihrer ganzen Breite einnahmen. Am frühen Morgen ging Raphaël unter die Dusche und schlüpfte in seinen schwarzen Anzug mit weißem Hemd, um ins Büro zu gehen, bei Tag war er so nüchtern, akribisch und streng wie zärtlich, ausgelassen und sprühend bei Nacht. Er arbeitete in
einer Anwaltskanzlei, die sich auf die Wahrung der Menschenrechte spezialisiert hatte.
    Micol und ich standen später auf. Für unser Frühstück, das immer endlos dauerte, rollte sie sich in einen abgewetzten Ledersessel ein, Tee für sie, für mich Kaffee. Die erste Zigarettenschachtel des Tages ging dabei drauf. Die Pulloverärmel bedeckten ihre Hände bis zu den Fingerspitzen, die Shorts, die Raphaël zum Squashspielen trug, reichten ihr bis zur Oberschenkelmitte; ihre kurzen Haare lockten sich im Nacken, streichelten ihren langen Hals. Wir waren so verschieden, dass man uns zwei unterschiedlichen Arten hätte zuordnen können. Sie faszinierte mich mit ihrem aristokratischen Kopf, ihrem genussvoll heimtückischen, fröhlich giftigen Wesen. Ein Zauber, den sie mit grausamer Unschuld einsetzte, ohne Rücksicht auf das Glück oder das Leid, das sie anderen zuteilwerden ließ.
     
    Nachdem er sein Omelett vertilgt hatte, musterte Gio mich wortlos, während ich in meinem fast unberührten Teller herumstocherte. Ich hatte ihn schließlich zur Seite geschoben, um mir einen Schluck Whisky einzuschenken.
    Gio hatte mir keine Zeit gelassen, mit seinen Eltern am Telefon zu sprechen. Ich beharrte nicht darauf, im Grunde war ich erleichtert und verschob das Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt. Ich hatte Muskelkater, war müde und verwirrt. Ich fragte mich, was er wohl über unsere Geschichte wusste, ob ihm jemand etwas verraten hatte? Aber wer wäre dazu imstande gewesen?
Von uns dreien abgesehen, wusste keiner davon, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie Raphaël oder Micol Gio von unserer merkwürdigen Beziehung erzählten; er dürfte mich bloß als leicht sonderbare Freundin der Familie, die seine früheste Kindheit aus nächster Nähe miterlebt hatte, in Erinnerung behalten haben. Tatsächlich konnte die Rolle, die ich gespielt hatte, in
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