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Roter Regen

Titel: Roter Regen
Autoren: Michael Moritz
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EINS
    Belledin bemerkte es als
Erster: Es hatte aufgehört zu regnen. Nach sieben Wochen ununterbrochenen
Niederschlags war das rhythmische Plätschern endlich verstummt. Belledin
schielte lauschend hinauf in das Skelett seines Regenschirms. Tatsächlich
schlug kein Tropfen mehr auf das schwarze Tuch.
    Auch die anderen Trauergäste streckten vorsichtig ihre Hände unter
dem Schutz der Schirme hervor, da sie dem Frieden noch nicht trauen wollten.
Nach und nach sanken die Schirme, parallel dazu glitt der Sarg in das Grab
hinab. Als der Pfarrer die erste Schaufel Erde auf das Eichenholz warf, rissen
die Wolken auf und ein Sonnenstrahl erhellte den Friedhof.
    Hauptkommissar Belledin hatte den Toten nicht gekannt, aber er
musste sich mit ihm beschäftigen. Thomas Hartmann war mit aufgeschlitzter Kehle
von seiner türkischen Putzfrau in einer Lache Blut gefunden worden. In seiner
Praxis. Neben dem Toten war auch die Tatwaffe gelegen, ein Okuliermesser, wie
es die Bauern hier verwendeten, um Obstbäume zu veredeln. Belledin konnte
allerdings keinen Bauern oder Winzer unter den Trauergästen entdecken; dafür
einige ihrer Ehefrauen. Das fiel ihm auf. Neben ihm selbst und dem Pfarrer
waren lediglich die beiden Totengräber und Dr. Merz männlichen Geschlechts.
    Belledin musste unwillkürlich an seinen Lieblingsfilm von François
Truffaut denken. »Der Mann, der die Frauen liebte …«, murmelte er unter seinem
dicken Schnäuzer.
    »Was?«
    Biggi, die sich bei ihm untergehakt hatte, blickte ihn fragend an.
Belledin schüttelte abwehrend den Kopf, so wie er es gerne tat, wenn man ihn
beim lauten Nachdenken erwischt hatte.
    Biggi hatte es sich nicht nehmen lassen, ebenfalls zur Beerdigung
des beliebten Heilpraktikers zu kommen. Normalerweise brachten sie keine zehn
Pferde in die Nähe eines Grabes. Die einzigen Beerdigungen, die sie nie
verpasste, waren die des englischen Königshauses, des Papstes und ähnlicher
Prominenter ersten Ranges. Bei Lady Di hatte sie es geschafft, acht Päckchen
Papiertaschentücher zu verbrauchen. Beim Tod von Michael Jackson kam sie
lediglich auf drei. Er stand ihr dann doch nicht so nah. Bei der Queen würden
es sicherlich sechs Päckchen werden, bei Papst Benedikt war Belledin sich
völlig unsicher.
    Sie schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch und riss ein neues
Päckchen auf. Es war bereits das zweite. Dafür, dass der Heilpraktiker kein
Prominenter war, war dies beachtlich.
    Belledin überlegte kurz, ob sie auch etwas mit diesem Don Juan
gehabt hatte. Es kursierten einige Gerüchte, aber er vertrieb den Gedanken
wieder. Und wenn schon, dachte er, solange er noch jeden Mittwoch an die Reihe
kam, ging das in Ordnung. Immerhin hatte es Biggi mit Hartmanns Hilfe
geschafft, innerhalb von sechs Monaten fünfzehn Kilo abzunehmen und eine
schwere Krise zu überstehen. Sie war dadurch in einen zweiten Frühling
gerauscht, der auch Belledin zugutekam. Er hatte sich sogar überlegt, ob er
Hartmann nicht selbst konsultieren sollte. Seit er sein Knie wegen des
Kreuzbandrisses schonen musste, war an Bewegung überhaupt nicht mehr zu denken,
und Biggi schien durch den eigenen Gewichtsabbau noch mehr Freude daran zu
haben, ihn kulinarisch zu verwöhnen.
    Ein hysterischer Schrei riss Belledin aus seinen Gedanken. Silke
Brenn war am Grab auf die Knie gefallen. Sie riss die Arme gen Himmel und
schrie so laut, dass es sogar die Totenglocken schwer haben würden,
dagegenzuhalten. Sofort waren Silkes Schwester Margit und der Pfarrer bei ihr,
um sie vom Boden zu heben und tröstend beiseite zu führen. Die Umstehenden
begannen zu tuscheln.
    Belledin zückte seinen Notizblock und protokollierte Silkes
Zusammenbruch. Immerhin war sie die amtierende Weinkönigin der Gegend und stand
kurz davor, zu heiraten. Da brach man doch nicht einfach so am Grab eines
anderen Mannes zusammen.
    Er hatte noch nicht zu Ende geschrieben, da zog ihn Biggi am Arm.
Sie wollte nun ebenfalls ans Grab. Belledin gehorchte und geleitete sie an die
Stelle, an der Silke kurz zuvor niedergesunken war. Er würde später einige
Fragen an sie zu richten haben. Jetzt hoffte er inständig, dass Biggi nicht
auch so eine Szene veranstaltete. Aber sie hielt sich tapfer. Sie schnäuzte in
ein frisches Papiertaschentuch, warf eine Schaufel Erde auf den Sarg und fragte
sich kurz, ob sie nun wieder zunehmen würde.
    * * *
    Die Abzüge baumelten an Wäscheklammern und tropften ins Säurebad.
Killian gefiel der Anblick: Er hatte die letzten vier Wochen
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