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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden
Autoren: Simonetta Greggio
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gedrückt und schob mir ein neues Notizbuch mit schwarzem Ledereinband in die Tasche - Weihnachten nahte -, dann flüsterte er mir ins Ohr:
    »Vergiss eines nicht, Mädchen - das ist der Rat eines alten Narren, was immer der taugen mag: Man kann weder alles verstehen noch alles beherrschen.«

D as Ende der Nacht malt lange Pinselstriche auf die Zimmerwände. Ich genieße den Rest Dunkelheit und den damit verbundenen Frieden, auch wenn ich weiß, dass es bald Zeit wird, sich zu rühren.
    Ich streichle Noten, die Mama gezeichnet hat, behutsam, weil die Partitur auf altem Papier gedruckt ist, das allmählich zerfällt. Mama nannte das »schlafende Musik«. Sie las gern Musik. Sie sagte, die Zeit übe ihre Tyrannei nicht aus, solange der Geist selbst seinen Rhythmus wählt und den eigenen Takt vorgibt. Sie sagte, das sei die wahre Freiheit.
     
    Mamas erstes Klavier war ein Stutzflügel von Gaveau. Ihre Eltern hatten eines der letzten Gemälde aus Familienbesitz veräußern müssen, um ihr das Instrument zu kaufen, aber es kam nicht infrage, das vielversprechende Töchterchen irgendeine Trommel schlagen zu lassen. Sie hatten ihre ganze Hoffnung in dieses Kind gesetzt, das aufrecht und still heranwuchs, eigensinnig und hochbegabt. Darum waren meine Großeltern in der Versenkung
verschwunden, als sie sich in Papa verliebte, gaben der undankbaren Tochter zwar noch ihren Pflichtteil am Erbe, aber verschlossen ihr auf ewig das enttäuschte Elternherz.
    »In dieser Branche bist du entweder ein Gott oder ein Niemand«, pflegte Mama zu sagen. »Auszeichnungen oder Bestnoten nützen da gar nichts. Man muss ohnehin Bestleistungen erbringen, was anderes bleibt einem nicht übrig. Und nach dem Abgang vom Konservatorium wird es noch schwieriger, als versammelten sich alle Klassenbesten am selben Ort, wo das Ausnahmetalent an der Tagesordnung ist. Von da an zählt nur noch herausragende Qualität. Und das Glück auch ein wenig.«
    Ich hatte nie die Geduld, die Finger länger als zehn Minuten in Folge auf der Tastatur zu halten. Selbst, als ich noch ganz klein war und sie mich im Arm hielt, sträubte ich mich. Dafür konnte ich ihr den ganzen Abend lauschen. Scarlatti und Vivaldi, Händel und Rameau und Debussy. Das allerletzte Stück, das ich sie spielen hörte, war jedoch ganz anderer Art. Licht von Stockhausen. Was ich gerade in Händen halte, sind einige Seiten aus dieser Partitur. Für Mama handelte es sich dabei um das finale Werk, um eine Metapher für den Kosmos, sie hatte versucht, mir das zu erklären, vergeblich. Erst Jahre später war ich in der Lage, mir dieses Werk anzuhören, das »auf die Proportionen einer Reihe von zwölf Tönen aufbaut, deren Noten Samen des Universums sind, mein Schatz. Zum Glück ist dieser Mensch Musiker geworden und nicht Schriftsteller«, fuhr sie fort, »sonst hätte ich niemals Zugang zu seiner Gedankenwelt
gefunden.« Mama las nicht. Wenn ich ihr das vorhielt, brachte sie mich mit den Worten zum Schweigen: »Man hat nur Zeit für eine einzige Leidenschaft, Emma. Das wirst du schon sehen.«
    Die Partitur lag auf ihrem Pult, als sie in diesem flüchtigen Moment von Klarheit, den die Krankheit ihr gewährt hatte, einer Art Atempause, bei der ihre Augen wieder wie früher trotzig und angriffslustig funkelten, flüsterte: »Ich kann nicht mehr. Hilf mir, mein Schatz.«
    An diesem letzten Abend gab ich Mama ihre Medikamente und sagte: »Schlaf gut, Mama. Bis morgen.« Im Morgengrauen stand ich auf, um das Fenster zu öffnen. Sie hatte schon vor geraumer Zeit aufgehört zu atmen. Ich legte mich zu ihr, mit der Nase an ihrem Hals, und atmete ihren Duft ein, wohl wissend, dass ich ihn für immer verloren hatte und er mir bis an mein Lebensende fehlen würde.
     
    Die Tage, die darauf folgten, habe ich nur vage im Gedächtnis behalten, in meinen Tagebüchern habe ich auch nichts notiert. Ich erinnere mich nur an den üblen Mundgeruch meines Vaters, der nichts mehr aß, nichts mehr trank. An seinen Blick, der mich durchbohrte. Die Fragen, die er für sich behielt. Das Schlimmste am Leid eines geliebten Menschen ist, dass man dieses Leid nicht auf sich nehmen kann. Das Schlimmste ist, dass keine Hilfe möglich ist.
    Als Mama weg war, ist Papa auch nicht mehr lang geblieben. Auf einen Schlag wurde er alt. Wenn er sich bewegte, krachten seine Gelenke wie Äste, die gegeneinanderstoßen.
Es heißt, man stirbt nicht an gebrochenem Herzen. Vielleicht stimmt das auch. Ich glaube allerdings, dass man stirbt,
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