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Mit geschlossenen Augen

Mit geschlossenen Augen

Titel: Mit geschlossenen Augen
Autoren: Melissa Panarello
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schon, Kleine, ich tu dir nicht weh«, sagte er.
»Nein, keine Sorge, ich hab keine Angst. Aber mir wär's fast lieber, du bist oben«, meinte ich mit einem schwachen Lächeln.
Er willigte mit einem Seufzer ein und warf sich auf mich.
»Spürst du was?«, fragte er und fing an, langsam in mir herumzurühren.
»Nein«, sagte ich, weil ich dachte, er meint Schmerzen.
»Wie, nein? Vielleicht liegt es am Gummi?«
»Keine Ahnung«, meinte ich, »aber du tust mir überhaupt nicht weh.«
Daniele sah mich angewidert an und sagte: »Verdammte Scheiße, du bist keine Jungfrau mehr!«
»Wie bitte?«, sagte ich und starrte ihn verdattert an. »Was soll das denn heißen?«
»Mit wem hast du's getrieben, hä?«, fragte er, während er rasch aufstand und seine über den Fußboden verstreuten Kleider auflas.
»Mit niemandem, das schwöre ich dir«, sagte ich laut.
»Für heute sind wir fertig.«
Den Rest brauche ich dir erst gar nicht zu erzählen, Tagebuch. Ich hatte nicht mal den Mut zu weinen oder zu schreien, als ich wegging; eine unendliche Traurigkeit schnürt mir das Herz zu und frisst es langsam auf.
6. März 2001
     
Heute sah mich meine Mutter beim Mittagessen forschend an und fragte in strengem Ton, worüber ich diese Tage ständig brüte.
    »Die Schule«, erwiderte ich mit einem Seufzer, »sie überhäufen uns mit Hausaufgaben.«
Mein Vater schaufelte unterdessen weiter seine Spaghetti in sich rein und kniff nur die Augen zusammen, um die Tagesschau mit den neuesten Entwicklungen der italienischen Politik besser mitzubekommen. Ich wischte meine Lippen am Tischtuch ab und verschmierte es dabei mit Tomatensoße; dann verdrückte ich mich rasch aus der Küche, während meine Mutter hinter mir herschimpfte, ich hätte vor nichts und niemandem Respekt, sie wäre in meinem Alter verantwortungsbewusster gewesen und hätte Tischtücher gewaschen, anstatt sie schmutzig zu machen.
»Ja, ja!«, habe ich aus dem andern Zimmer zurückgeschrien, mich unter meine Bettdecke verkrochen und mein Kissen nass geheult.
Der Geruch des Weichspülers vermischte sich mit dem bizarren Geruch des Rotzes, der aus meiner Nase rann; später habe ich Rotz und Tränen mit dem Handrücken abgewischt und das Porträt an der Wand betrachtet, das ein brasilianischer Maler unlängst von mir gemacht hat; das war in Taormina, er hielt mich einfach auf der Straße an und sagte: »Was für ein schönes Gesicht du hast! Lass es mich zeichnen — gratis, das verspreche ich dir.«
Und während sein Bleistift über das weiße Papier glitt, leuchteten seine Augen und lächelten anstelle der Lippen, die geschlossen blieben.
»Warum finden Sie, dass ich ein schönes Gesicht habe?«, fragte ich den Mann, während ich ihm Modell saß.
»Weil es Schönheit ausdrückt, Schlichtheit, Unschuld und Spiritualität«, erklärte er mir mit ausholenden Gesten.
Unter der Bettdecke dachte ich an die Worte des Künstlers zurück und dann an den gestrigen Morgen, an dem ich verloren habe, was der alte Brasilianer an Kostbarem in mir sah. Ich habe es zwischen Leintüchern verloren, die allzu kalt waren, unter den Händen eines Menschen, der sein eigenes Herz verschlungen hat ‒ es schlägt nicht mehr. Ist tot. Ich, Tagebuch, ich habe ein Herz, auch wenn er es nicht merkt und vielleicht keiner es je merken wird. Bevor ich es öffne, werde ich jedem Mann zuerst meinen Körper geben; erstens, weil er, indem er mich kostet, vielleicht auch meine Wut und Bitterkeit schmecken und deshalb wenigstens ein Minimum an Mitgefühl für mich aufbringen wird; zweitens, weil er sich in meine Leidenschaft verlieben und nicht mehr ohne sie auskommen wird. Erst wenn es so weit ist, werde ich mich ihm völlig hingeben, rückhaltlos und ohne jeden Zwang, damit nichts von dem, was ich mir immer ersehnt habe, verloren geht. Mit beiden Händen werde ich es festhalten, hegen und pflegen wie eine seltene, kostbare Blume und aufpassen, dass der Wind ihm nicht jäh eine Ohrfeige verpasst und es zerstört, das schwöre ich.
9. April 2001
    Die Tage sind besser geworden, der Frühling ist dieses Jahr völlig unvermittelt explodiert. Eines Morgens erwache ich, die Blumen sind aufgeblüht, die Luft ist lauer geworden,
    und das Meer hat das Azurblau des Himmels angenommen, der sich in ihm spiegelt. Wie jeden Morgen fahre ich mit dem Mofa zur Schule; es ist noch eisig, aber die Sonne am Himmel verspricht, dass die Temperaturen später steigen werden. Aus dem Meer ragen die faraglioni auf, die Felsbrocken, die der
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