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Mit geschlossenen Augen

Mit geschlossenen Augen

Titel: Mit geschlossenen Augen
Autoren: Melissa Panarello
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seine Augen kleiner wurden und er den Blick nach unten richtete.
Er brach in Tränen aus und vergrub vor Scham das Gesicht in den Händen; dann kauerte er sich wieder auf sein Badetuch, mit den angezogenen Beinen ähnelte er noch mehr einem wehrlosen, unschuldigen Kind.
Ich habe ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt, still und bedächtig mein Badetuch zusammengelegt, meine Sachen eingesammelt und bin dann langsam auf das Pärchen zugegangen. Sie umarmten sich, der eine beschnupperte den Hals des andern auf der Suche nach seinem Geruch; ich blieb einen Augenblick stehen und schaute sie an; begleitet vom Murmeln der Wellen, hörte ich ein leises »Ich liebe dich«.
Sie haben mich nach Hause begleitet, und als ich mich bei ihnen bedankte und für die Unterbrechung entschuldigte, meinten sie nur, sie seien glücklich, mir geholfen zu haben.
Jetzt, wo ich dies schreibe, fühle ich mich schuldig, Tagebuch. Dafür, dass ich ihn mit seinen elenden, harten Tränen am feuchten Strand zurückgelassen habe, dafür, dass ich mich feige aus dem Staub gemacht und nicht verhindert habe, dass er sich quält. Aber ich habe alles für ihn getan und auch für mich. Er hat mich so oft weinen lassen und ausgelacht, anstatt mich an sich zu drücken; da wird es jetzt für ihn kein Drama sein, einmal allein dazustehen. Und für mich auch nicht. 30. April 2001
    Ich bin glücklich, überglücklich ‒ obwohl es eigentlich gar keinen konkreten Anlass dafür gibt. Keiner ruft mich an, keiner kommt mich besuchen, trotzdem platze ich schier vor Freude, bin unwahrscheinlich happy. All meine Paranoia ist wie weggeblasen, ich warte nicht mehr bibbernd darauf, dass er anruft, und bin endlich dieses scheußliche Gefühl los, jemand strampelnd auf mir liegen zu haben, dem ich und mein Körper völlig wurscht sind. Jetzt brauche ich meiner Mutter auch nichts mehr vorzulügen wie in den letzten Wochen, wenn sie mich fragte, wo ich herkomme, und ich mich mit irgendeinem Scheiß herausreden musste: dass ich in der Stadt ein Bier trinken war oder im Kino oder im Theater. Und vor dem Einschlafen habe ich mir dann ausgemalt, was ich getan hätte, wenn ich wirklich dorthin gegangen wäre, ins Kino, ins Theater oder in eine Kneipe. Bestimmt hätte ich mich dort amüsiert, Leute kennen gelernt und ein anderes Leben gelebt, eins, das nicht nur aus Zuhause, Schule und Sex mit Daniele besteht. Und genau das ist es, was ich jetzt will: ein anderes Leben. Jetzt will ich jemanden, den Melissa interessiert, egal, wie lange ich noch auf ihn warten muss. Kann sein, dass die Einsamkeit mich zermürbt, aber sie macht mir keine Angst. Ich selbst bin meine beste Freundin, ich würde mich nie verraten, nie. Aber wehtun, wehtun vielleicht schon. Nicht, weil ich das geil fände, sondern weil ich mich irgendwie bestrafen möchte. Nur, wie komme ich dazu, mich gleichzeitig zu lieben und bestrafen zu wollen? Das ist ein Widerspruch, Tagebuch, ich weiß. Aber noch nie waren Liebe und Hass so dicht beisammen, so eng verbündet, so in mir drin.
7. Juli 2001 o Uhr 38
    Heute habe ich ihn wieder gesehen, er hat noch einmal ‒ ich hoffe das letzte Mal ‒ meine Gefühle missbraucht. Alles begann wie immer und endete wie immer. Ich bin bescheuert, Tagebuch, ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er sich noch einmal an mir vergeht.
5. August 2001
Wir sind fertig miteinander, endgültig. Aber ich bin nicht fertig, im Gegenteil, für mich beginnt ein neues Leben, und darüber freue ich mich.
     
11. September 2001 15 Uhr 25
     
Vielleicht sieht Daniele im Fernsehen dieselben Bilder wie ich.
     
28. September 2001 9 Uhr 10
    Die Schule hat seit kurzem wieder begonnen, und schon herrscht wieder dieses aufgeheizte Klima ‒ Streiks, Demonstrationen, Versammlungen und ewig dieselben Themen; ich sehe die erhitzten Gesichter bereits vor mir, wenn die Aktivisten wieder auf die vom Kollektiv losgehen und umgekehrt; in ein paar Stunden fängt die erste Versammlung dieses Schuljahrs an, zur Debatte steht die Globalisierung; momentan sitze ich im Klassenzimmer, hinter mir unterhalten sich ein paar Klassenkameradinnen über den heutigen Gastredner ‒ angeblich ein gut aussehender Typ mit Engelsgesicht und sehr intelligent, sie lachen dreckig, als eine von ihnen meint, sie sei weniger an seiner Intelligenz als an seinem Engelsgesicht interessiert.
    Dieselben Mädchen haben mich vor ein paar Monaten durch den Kakao gezogen, weil ich mit einem gepennt habe, der nicht mein Freund war ‒ ich bin so doof
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