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Mit deinen Augen

Mit deinen Augen

Titel: Mit deinen Augen
Autoren: Kaui Hart Hemmings
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kein Vater, der stets präsent ist. Ich war die meiste Zeit innerlich abwesend, aber ich versuche, mich zu ändern. Und ich finde, das mache ich gut.

    Ich stehe in der Tür zum Krankenzimmer meiner Frau und sehe, dass Scottie auf dem Linoleumfußboden Himmel-und-Hölle spielt und ihre Positionen mit den kleinen Holzspateln markiert, die der Arzt verwendet, wenn er einem in den Hals schaut.
    »Ich habe Hunger«, verkündet sie. »Können wir jetzt gehen? Hast du mir was zu trinken mitgebracht?«
    »Hast du mit ihr geredet?«
    »Ja?«, sagt sie, und ich weiß, dass sie lügt, denn wenn sie lügt, klingt ihre Antwort immer wie eine Frage.
    »Gut«, sage ich. »Dann fahren wir nach Hause.«
    Scottie geht zur Tür, ohne sich noch einmal nach ihrer Mutter umzusehen. Sie nimmt mir die Cola aus der Hand. »Vielleicht kommen wir später noch mal her«, versichere ich ihr, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Ich schaue zu meiner Frau, und auf ihrem Gesicht sehe ich ein leichtes Lächeln - als wüsste sie etwas, was ich nicht weiß. Ich denke an das blaue Kärtchen. Es ist schwer, nicht daran zu denken.
    »Verabschiede dich von deiner Mutter.«
    Scottie bleibt kurz stehen und geht dann weiter.
    »Scottie!«
    »Tschüs!«, schreit sie.
    Ich packe sie am Arm. Ich würde sie gern anbrüllen, weil sie so schnell weg will, aber ich lasse es lieber bleiben. Sie reißt sich los. Ich sehe mich um, ob uns jemand beobachtet, weil ich ja weiß, dass man heutzutage Kinder nicht mehr hart anfassen darf. Vorbei sind die Tage der Prügelstrafe, die Tage von Zuckerbrot und Peitsche. Jetzt greift man zu Therapien, Antidepressiva und kalorienfreiem Süßstoff. Da entdecke ich Dr. Johnston am anderen Ende des Flurs. Er kommt auf uns zu, unterbricht sein Gespräch mit den anderen Ärzten und signalisiert mir, ich soll auf ihn warten. Er hebt die Hand: Halt! Sein Gesicht drückt aus, dass es wichtig ist, aber er lächelt nicht. Ich schaue in die andere Richtung, dann wieder zu ihm. Er beschleunigt seinen Schritt. Ich kneife die Augen zusammen, und aus irgendeinem Grund tue ich so, als würde ich ihn nicht erkennen. Und ich denke: Was ist, wenn ich mich irre? Was ist, wenn Joanie da nicht mehr rauskommt?
    »Scottie«, sage ich, »hier lang.«
    Ich gehe in die andere Richtung, weg von Dr. Johnston, und Scottie folgt mir.
    »Schneller«, sage ich zu ihr.
    »Warum?«
    »Es ist ein Spiel. Komm, wir laufen um die Wette. Renn, so schnell du kannst.« Sie saust los, der Rucksack hüpft auf ihrem Rücken, ich gehe auch immer schneller, und weil Dr. Johnston der Vaters meines Freundes ist und ein Freund meines Vaters war, komme ich mir vor, als wäre ich wieder vierzehn und würde vor den Patriarchen davonlaufen.
    Ich muss daran denken, wie wir Eier auf Dr. Johnstons Haus geworfen haben, um seinen Sohn Skip zu ärgern.
    Wir waren zu dritt - Blake Kelly, Kekoa Liu und ich, und als wir wegrannten, verfolgte uns Dr. Johnston mit seinem Truck. Er holte uns ziemlich schnell ein, und wir flohen in eine Sackgasse. Da stieg er aus, kam zu Fuß hinter uns her und trieb uns in die Enge. Er hatte eine Foodland-Plastiktüte in der Hand und erklärte, wir hätten zwei Möglichkeiten: Entweder werde er unsere Eltern anrufen, oder wir könnten ihm helfen, den Tofu-Nachtisch zu vertilgen, den seine Frau zubereitet hatte.Wir entschieden uns für die zweite Variante. Er griff in die Tüte und zahlte uns unsere Eieraktion mit gleicher Münze heim. Als wir schließlich gehen durften, hatten wir Tofu in den Haaren, in den Ohren, einfach überall. Bis heute nennt er uns »die Soja-Jungs«, lacht hysterisch und macht »Buh!«, wenn er uns sieht, und ich zucke jedes Mal zusammen. In den vergangenen drei Wochen hat er allerdings damit aufgehört.
    Ich renne mit meiner Tochter den Flur hinunter und fühle mich wie im Ausland. Um uns herum reden alle Leute Pidgin-Englisch und starren uns an, als wären wir durchgedrehte weiße Trottel, obwohl wir Hawaiianer sind. Aber wir sehen nicht so aus, und wir gelten nicht als richtige Hawaiianer, weil wir ja auch nicht so reden.
    Dienstag, hat Dr. Johnston gesagt. Wir sind für Dienstag verabredet, und zu dem vereinbarten Termin werde ich brav erscheinen. Aber jetzt will ich noch nichts wissen. Ich muss mich um zu viele andere Dinge kümmern. Ich schaue mich um. Dreiundzwanzig Tage. Seit dreiundzwanzig Tagen ist das hier meine Welt: diese Leute, die sich gegenseitig mustern und dabei überlegen, warum die anderen wohl hier sind; die
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