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Mit Blindheit Geschlagen

Mit Blindheit Geschlagen

Titel: Mit Blindheit Geschlagen
Autoren: Christian Ditfurth
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Rücken loszuwerden. Die Tablette dämpfte sie kaum. Die Wirkung des Alkohols ließ nach. Eine Straßenlaterne warf ein mattes Licht ins Schlafzimmer. Er roch die Farbe. Dann legte er den Arm unter den Kopf und fragte sich, wie es weiterging. Die Aufregung ließ nach, aber das Verlangen wuchs. Anne fiel ihm ein, und er ahnte, was er versäumt hatte. Er schüttelte den Kopf auf dem Kissen. Es war zum Totlachen, weil er Anne nicht verlieren wollte, hatte er sich zurückgehalten. Weil er sich zurückhielt, hatte er sie verloren. So was nennt man auch Dummheit. Aber bei der Frau eines Kollegen verlierst du die Hemmung. Das kann nicht gut gehen, und du bist zum Draufgänger mutiert, wie es einem Unglücksraben ansteht. Einen Augenblick fühlte er sich als Schwein. Er betrog einen Kollegen, aber hatte sie ihn nicht in die Wohnung gelockt?
    Irgendwann war er doch eingeschlafen. Er spürte einen Luftzug am Ohr. Als er die Augen öffnete, lachte sie ihn an. Sie stand am Fußende des Betts. Der Frühstückstisch war gedeckt.
    »Kein schlechtes Gewissen?«, fragte er.
    »Warum?«
    »Offenbar nicht«, sagte er. »Richtig skrupellos.«
    »Beschwer dich nicht, du hattest deinen Spaß.«
    Er staunte, wie kühl sie war. »Und nun?«
    »Was nun?«
    »Treffen wir uns wieder?«
    »Ja, bestimmt. Ich ruf dich an. Du hast bestimmt eine Visitenkarte.«
    Stachelmann gab ihr eine.
    Sie schaute drauf. »Oder eine Mail. Aber bitte melde du dich nicht.«
    »Klar«, sagte Stachelmann.
    Sie zeigte ihm das Badezimmer und hatte sogar eine Zahnbürste für ihn.
    Er küsste sie, als er ging. Sie war mit ihren Gedanken woanders. Doch ein schlechtes Gewissen, dachte Stachelmann, aber sie will cool sein.
    Eine halbe Stunde vor Beginn seines Hauptseminars saß er in seinem Dienstzimmer. Er sortierte die Gedanken in seinem Kopf. Die Müdigkeit zog an ihm. Er überflog noch einmal die Hausarbeit, über die er in der Sitzung sprechen wollte. Reichsfluchtsteuer, Arbeitsdienst, Autobahnen. Gestelztes Geschreibsel, ein Epigone, dieser Walter Hartmann. Der zählte zu den wenigen Eifrigen im Seminar, und Stachelmann hätte dankbar sein müssen, dass es ihn gab. Aber ihn widerte die Mischung aus Eifer und Nachgeplapper an.
    Er dachte an Ines. Und dann an Anne. Die Gesichter verschmolzen miteinander. Aber Anne hatte einen Schwangerschaftsbauch. Auch wenn er zu lange gezögert hatte, das hätte sie ihm nicht antun dürfen. Er spürte Wut aufsteigen, stand auf und schaute zum Fenster hinaus. Der gestrige Tag verwirrte ihn. Hätte einer vorher behauptet, er würde an einem Tag seinen Vater beerdigen, sich betrinken und mit der Frau eines Kollegen schlafen, Stachelmann hätte ihn für verrückt gehalten. Hatte ihn die Beerdigung stärker erschüttert, als er es sich eingestand? Mit der Frau eines neuen Kollegen, das war, als hätte er eine Zeitbombe gezündet, ohne zu wissen, wann sie explodierte.
    Es klopfte an der Tür. Es war Hartmann. »Herr Stachelmann …«
    Stachelmann drehte sich abrupt um. »Ja, ich komme.«
    Jetzt holten die Studenten einen sogar ab. Früher wären Stachelmann und Ossi in die Cafeteria verschwunden, wenn sie das Seminar nicht umfunktioniert hätten.
    Er nahm seine Tasche und Hartmanns Hausarbeit und überlegte, wie er es anstellen sollte. Dann dachte er an Ines. Wie schön es wäre, sie am Abend wieder zu besuchen. Ob er sie doch anrufen sollte?
    Im Seminarraum erwarteten ihn gut zwanzig Teilnehmer, ein paar fehlten immer. Trotzdem waren es zu viele für ein Hauptseminar. Hartmann saß in der ersten Reihe, neben ihm eine hübsche Studentin mit halblangen braunen Haaren. Stachelmann missachtete sie seit Wochen, die Verfolgung durch eine aufdringliche Studentin in der Zeit des Holler-Falls hatte ihn ängstlich gemacht.
    Hartmann referierte seine Arbeit genauso gestelzt, wie er sie geschrieben hatte. Hauptwort an Hauptwort, Partizipien, kunstvolle Relativsatzgeflechte, viele Adjektive und Genitive. Er sagte nichts Falsches, aber auch nichts Neues. Stachelmann ermahnte sich, von seinen Studenten nicht mehr zu verlangen, als die meisten Historiker zustande brachten. Und doch ärgerte er sich über Hartmanns Vortrag.
    Niemand im Seminar meldete sich. Als er eine Weile vergeblich gewartet hatte, sagte er: »Wenn man ein Beispiel sucht, warum die Arbeiten vieler Historiker unlesbar sind, dann hätten wir eines gefunden.« Er trug seine Gründe vor, und jedes Argument war genauer als das vorherige. Er geißelte den Jargon seiner Zunft, das
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