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Mit Blindheit Geschlagen

Mit Blindheit Geschlagen

Titel: Mit Blindheit Geschlagen
Autoren: Christian Ditfurth
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idiotisch war, empfand er es manchmal als Fürsorge. Damals jedenfalls. Aber seit er Tausende von Akten der SED gelesen hatte, war er kuriert.
    »Niemand, der SED-Akten halbwegs unvoreingenommen liest, kann glauben, dieser DDR-Sozialismus sei mehr gewesen als die unbegrenzte Macht so genannter Arbeiterführer, die sich selbst oder mithilfe des großen Bruders in Moskau ins Amt gehievt hatten. Wechsel in der Macht gab es nur durch Intrigen und Kungeleien in Gremien, die auch niemand gewählt hatte. Den Beschluss zum Aufbau des Sozialismus 1952 hat Ulbricht in Absprache mit dem Massenmörder Stalin ganz allein gefällt. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.«
    »Der Fortschritt geht manchmal krumme Wege. Das ist Dialektik, falls du das schon vergessen haben solltest.«
    »Red nicht so einen Unsinn.« Er trank das Glas leer.
    »Du hast nur Schiss, dass du ein Jahrzehnt deiner Biografie unter Verluste abbuchen musst. Du kannst dir natürlich weiter vormachen, du hättest für den Frieden gekämpft, und es wird viele geben, die mit dieser Lüge beerdigt werden. Aber das ist kein Leben. Jedenfalls nicht für mich.«
    »Sie werden dich rausschmeißen.«
    »Das vermute ich auch. Aber ich glaube, dann wird es mir besser gehen. Ich habe schon viel zu lange gelogen.«
    »Du warst immer ein Romantiker.«
    Er lachte leise vor sich hin. »Ich habe gedacht, ich würde es loswerden mit der Zeit. Stattdessen mache ich mir immer mehr Vorwürfe, je weiter es zurückliegt. Ich wache nachts auf, ich träume schlecht, auch am Tag fallen mir immer wieder Szenen meines Lügenlebens ein. Zuallererst habe ich mich selbst angeschissen. Erstaunlich, wie lange man so was durchhalten kann.«
    »Du trittst ja nun in Konkurrenz mit Engeln oder anderen Himmelsgeschöpfen. Glaubst du, deine werten Kolleginnen und Kollegen tragen keine Lebenslügen mit sich herum?«
    »Man kann das, was wir getan haben, nicht vergleichen mit einem Seitensprung oder mit Erbschleicherei. Wenn wir gesiegt hätten, dann hätten wir auch im Westen eine Diktatur eingeführt, genauso ekelhaft wie die im Osten. Dann hätten wir den Leuten vorgeschrieben, was sie wann zu denken hätten. Und wehe, wenn nicht.«
    »Du glaubst also, den Leuten hier würde nicht vorgeschrieben, was sie zu denken hätten? Schau auf die Politik, sie lügen und betrügen.«
    »Und wenn es so ist, macht es das besser, was wir getan haben? Kann man sich rausreden, indem man auf andere zeigt? Das ist doch wie im Sandkasten. Außerdem unterscheidet sich die Demokratie von der Diktatur nicht durch größere Wahrheitsliebe, sondern dadurch, dass nur die Demokratie einem die Chance bietet, seine Interessen durchzusetzen. Wenn du so willst, die Wahrheit für sich herauszufinden. Was keineswegs heißt, Erfolg zu haben. In der Diktatur bestimmt ein kleiner Zirkel von Führern, was gut ist für einen. Diktatur entmündigt, Demokratie verlangt selbstständiges Denken und selbstständiges Handeln. Die Möglichkeit des Scheiterns inbegriffen.«
    »Danke, Herr Professor.«
    »Manchmal habe ich den Eindruck, dass du diese einfache Wahrheit nicht begreifst. Oder nicht begreifen willst. Ich verstehe es auch, es würde das Eingeständnis bedeuten, dass du lange falsch gelegen hast, so wie ich. Wenn du so weitermachst, behältst du immer Recht und lügst doch.«
    »Das hast mir schon alles tausendmal erzählt, dadurch wird’s nicht richtiger.«
    »Wir hätten nicht hierher ziehen sollen.«
    »Ich hätte nicht mit dir hierher ziehen sollen.« Sie klang bitter. »Wenn du tust, was du vorhast, müssen wir uns trennen.«
    »Sind wir das nicht längst, getrennt?«
    »Ich dachte, du kommst zur Vernunft. Was passiert ist, ist passiert. Du kannst es nicht ungeschehen machen.«
    »Aber ich kann verhindern, dass der Wahnsinn weitergeht, bis ich den Löffel abgebe.«
    »Jetzt fängst du wieder von vorne an.«
    Er stand auf, nahm die Flasche und goss sich noch mal ein. Sie kam, hielt ihr Glas hin, er schenkte es halb voll. Er roch ihr Parfüm, es stieß ihn ab.
    »Ich fahre morgen nach dem Empfang nach Berlin und fange an, die Sache zu einem Ende zu bringen. Erst in Berlin und dann hier.«
    »Was heißt hier?«
    »Sobald ich zurück bin, gehe ich zu Bohming und sage ihm alles.«
    »Er schmeißt dich raus.«
    »Ja. Schlimm genug, dass ich mich habe einstellen lassen.«
    »Wenn du nach Berlin fährst, solltest du dich mit Heinz treffen.«
    Er schaute sie lange an. »Mit dem wollte ich eigentlich nichts mehr zu tun
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