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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Autoren: Ralf Isau
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dessen war er sich gewiss.
    Er sammelte seine Kräfte, spannte die Muskeln und schnellte nach oben. Dabei riss er die Arme hoch und stimmte ein infernalisches Geschrei an. Wenn schon sein Niesen den Feind erschreckt hatte, vielleicht konnte der Lärm ihn dann auf Abstand halten.
    Das Kind wollte sich mit diesem Gedanken Mut machen, glaubte jedoch nicht wirklich an den Erfolg der lautstarken Maßnahme. Leider bestätigten sich seine Zweifel. Während es kreischend einen flachen Hang hinaufrannte, hörte es hinter sich ein lautes Knacken. Der Jäger hatte die Verfolgung aufgenommen.
    Ein kurzer Blick über die Schulter machte die schlimmsten Ahnungen des Jungen zur Gewissheit. Mit kraftvollen Sprüngen setzte ihm ein Geschöpf nach, dessen Anblick dazu angetan war, zaghafte Naturen in Stein zu verwandeln. Sein Körper ähnelte dem eines riesigen Luchses, wenngleich die kurzen kraftvollen, mit Hufen versehenen Hinterläufe und die längeren, in krallenbewehrte Tatzen mündenden Vorderbeine den stark nach hinten abfallenden Rumpf irgendwie schief aussehen ließen. Der Kopf des Räubers glich eher dem eines Warzenschweins. Die mächtigen Hauer, die aus dem geifernden Maul ragten, waren wie lange, gebogene Dolche. Mühelos holte der Schweineluchs auf.
    Der Junge konnte ihn hören und auch spüren. Ihm wurde bewusst, dass seine Flucht der sicherste Weg zu einem schnellen Ende war. Das Raubtier würde ihn von hinten anspringen und ihn am Genick packen. Vor sich sah er einen abgebrochenen Ast aus dem Laub am Boden ragen. Damit konnte er sich verteidigen. Aber würde er diese Waffe noch rechtzeitig packen können? Der Knabe schickte alle seine
    Kräfte in die Beine und obwohl ihm das linke weniger gut gehorchte als das rechte, rannte er wie ein Wiesel, nur eben wie ein hinkendes Wiesel. Tatsächlich e r reichte er den Knüppel, riss ihn mit beiden Händen unter der halb vermoderten Decke aus Blättern hervor und stellte sich dem Gegner.
    Der stemmte seine behuften Hinterläufe gegen den Lauf und kam schlitternd zum Stillstand. Die Pupillen seiner hellblauen Augen, eben noch zwei waagerechte Schlitze, wurden groß und rund. Es stieß einen drohenden Laut aus, der irgendwo zwischen einem Quieken und einem Fauchen lag.
    »Komm her, damit ich deinen Schweinerüssel platt hauen kann!«, drohte der Junge. Seinen langen Knüttel reckte er wie ein Schwert nach vorn. Für einen Sechsjährigen besaß er erstaunlich wenig Respekt vor dem deutlich größeren Gegner.
    Der Schweineluchs schlug mit der Tatze nach dem Ast und brüllte, dass die Blätter am Boden tanzten.
    Spätestens jetzt schüttelte den Jungen die Angst. Er hatte den Knüttel bei der Abwehr des ersten Angriffes kaum festhalten können. Sehr langsam wich er zurück. Plötzlich rutschte sein linker Fuß weg, weil unter den vom Morgentau feuchten Blättern ein Felsen lag. Einen Wimpernschlag lang kämpfte er um sein Gleichgewicht. Der Jäger setzte sofort nach. Gerade noch rechtzeitig gewann der so Bedrängte die Balance zurück und riss erneut sein »Schwert« hoch. Er zielte direkt auf die feuchte schwarze Nase des Schweineluchses, weil er s i e für dessen empfindlichsten Teil hielt. Das Tier zog sich auf einen Sicherheitsabstand außerhalb der Reichweite der Waffe zurück und quiekte erbost. Die Unterlippe des Knaben begann zu zittern. Eine Träne lief ihm über die Wange. Er hätte weiterschlafen sollen, vielleicht wäre ihm dann nichts passiert. Solange er durchs Land der Träume gestreift war, hatte ihm niemand etwas Böses getan. Sollte er am Ende nur aus seinem  warmen dunklen Schlummer erwacht sein, um in dieser kalten Welt von einem hässlichen F l eischfresser zerrissen zu werden? Von der Unaufmerksamkeit seiner Beute ermutigt, schnappte der Jäger plötzlich zu. Ein hässliches Knacken ertönte, als das  Raubtiergebiss den Knüppel zermalmte.
    Der Junge stellte sich vor, sein Hals wäre zwischen die Kiefer des Untiers geraten. Aus angstgeweiteten Augen verfolgte er, wie der Räuber mit scheinbarem Vergnügen den dicken Knüttel hin und her schleuderte, bis sich das vordere Ende von der Bissstelle losriss und ein gutes Stück davonflog. Das Ganze glich einer Zurschaustellung roher Gewalt, um dem Opfer schon einmal einen Vorgeschmack davon zu geben, was es in Kürze erwartete. Der Junge wollte einen weiteren Schritt nach hinten machen, stieß aber mit dem Rücken gegen einen Baum.
    Dem Schweineluchs schien dieser Umstand Freude zu bereiten. Er ließ das kürzere
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