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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Autoren: Ralf Isau
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und hatte seitdem wenig Muße gehabt, über
    seinen Namen nachzudenken. Twikus? Er nickte. »Ja, so heiße ich.«
    Mit einem Mal strahlte der Alte über das ganze Gesicht. Er breitete die Arme aus und lief auf den Jungen zu, der sich widerstandslos an die breite Brust seines Retters drücken ließ.
    »Seit wann sind wir denn Freunde?«, fragte der Geherzte mit dumpfer Stimme. Sein Gesicht war vergraben in einem weichen Lederwams, was ihm zunehmend die Atmung erschwerte.
    Der Alte gab ihn endlich wieder frei. »Es ist nicht leicht, darauf eine ehrliche Antwort zu geben.«
    »Warum?«
    »Weil du wie ein junges Fohlen bist: schwer zu bändigen.
    Am Anfang war es ziemlich anstrengend, dich im Z aum zu halten, aber irgendwann hat es mir sogar Spaß gemacht, auf dich aufzupassen.«
    »So wie eben, meint Ihr.«
    »Sprich zu mir wie zu einem Freund, ohne dieses ganze Ih r - und Euch - Getue , hörs t du?«
    Twikus nickte.
    »Um auf deine Frage zurückzukommen, mein Jun g e: Das eben war ein bisschen ernster als deine üblichen Narreteien. Ich dachte, du schläfst noch, nachdem ich gestern… Na, ist auch egal. Jedenfalls solltest du in Zukunft vorsichtiger sein, wenn du alleine durch den Großen Alten streifst.«
    »Warum?«
    »Weil der Wald viele Gefahren birgt, Twikus, gerade jetzt, wo sich alles zu ändern scheint. Ich habe noch nie einen Grotan gesehen, der ohne Not einen Menschen anfällt. Wer kann schon wissen, ob uns nicht morgen schon die Waldbolde an die Gurgel gehen. Mir gefä l l t da s alle s nicht.«
    »Wa s is t ei n Waldbold?«
    »Ein kleines Männlein oder Weiblein, das knorrig ist wie eine Wurzel und dir nur bis zum Bauch reicht. Die Waldbolde wollen normalerweise von uns Menschen in Ruhe gelassen werden. Deswegen leben sie nur hier, im Großen Alten, und sonst nirgendwo.«
    »Warum?«
    Falgon verdrehte die Augen zum Himmel. »Du bist fast so schlimm wie dein… Äh, ich wollte sagen, der Große Alte hat keinen guten Ruf. Die Menschen glauben, er ist verzaubert.«
    »Und , is t e r das?«
    »Nicht im eigent liche n Sinne.«
    »Verstehe ich nicht.«
    »Hier gibt es wie gesagt ein paar Dinge, die du sonst nirgendwo auf Mirad findest. Die meisten Menschen sind dumm, Twikus. Sie fürchten, was ihnen fremd ist.«
    »Und deshalb haben sie auch Angst vor dem Wald?«
    »Du sagst e s.«
    »Abe r d u nicht.«
    »Nein. Ich bin hier geboren worden. Schon mein Vater und meine Mutter waren Freunde der Waldbolde. Sie zeigten meinen Eltern, wo die besten Goldalben wachsen. Das Harz haben wir gesammelt und einmal im Jahr auf dem Markt von Fungor ve r kauft.«
    Twikus nickte, obwohl er nicht wusste, was der Markt von
    Fungor war. »Ich habe auch keine Angst, Falgon.«
    Der Alte strich dem Jungen durchs sonnenblonde Haar. »Ja, daran müssen wir noch arbeiten. Aber erst mal lass mich nach dem Grotan schauen. Mir ist nicht wohl, solange…«
    »Solange du ihm nicht das Fell über die Ohren gezogen hast?«
    »Und ich ihn in kleine Stücke zerlegt habe. Sein Fleisch wird uns eine Weile die Bäuche füllen. Aber zuerst muss er aufgebroche n werden.«
    Twikus sah interessiert dabei zu, wie Falgon mit einem langen Messer den Kadaver öffnete, um Blut und Eingeweide herauszuholen. Auch das anschließende Häuten und Zerlegen der Beute erschien ihm so selbstverständlich wie zuvor die Jagd des Grotan. Der Tod des einen sicherte das Überleben des andere n – das war der Lauf der Welt. Obwohl Twikus keine Erinnerungen besaß, mit denen er seine Einsichten hätte begründen können, verstand er das Wesen Mirads fast so gut, als wäre es ihm schon mit der Muttermilch eingeflößt worden. Und in gewisser Hinsicht stimmte das sogar.
    »Ich möchte auch einen Speer haben!« Die Worte des Knaben beendeten eine Phase längeren Schweigens, in der nur das Geräusch des durch Fleisch und Sehnen schneidenden Messers zu hören gewesen war.
    Falgon unterbrach seine Arbeit, rieb sich mit dem feuchten Laub das Blut von den Händen, griff nach dem schwarzen Schaft, der neben dem Kadaver auf dem Boden lag, und richtete sich auf. Er wog die Waffe einen Moment in seiner rechten Hand, dann sagte er unvermittelt: »Hier, fang auf!« Fa st gleichzeitig warf er den Speer mit zur Seite weisender Spitze dem Jungen zu.
    Twikus hatte schnelle Reflexe. Er breitete die Arme aus und griff den Schaft aus der Luft. Das Gewicht der Waffe überraschte ihn, fast wäre er beim Fangen nach hinten gekippt. Falgons Mundwinkel zuckten vor Vergnügen. »Der Schaft ist aus
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