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Mina (German Edition)

Mina (German Edition)

Titel: Mina (German Edition)
Autoren: David Almond
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Lecker. Gehe zur Eingangstür hinaus und bleibe stehen. Die Straße ist leer. Nur Autos parken entlang des Bordsteins. Der Himmel ist leer, bis auf ein paar Wolken und den einen oder anderen Vogel. Der Traum wiederholt sich in meinen Gedanken, und einen Augenblick lang ist der Himmel wieder erfüllt von fallenden Wesen. Ich schlürfe den leckeren Kakao. Ich lausche den Vögeln, lausche ihrem Morgengesang, lausche vielleicht der Stimme Gottes.
    Ich gehe zu meinem Baum und stelle mich darunter. Lehne mich an den Stamm. Die Amseln kreischen, aber sie wissen, dass bloß ich es bin, und geben schon bald wieder Ruhe. Ich schließe die Augen und lausche genauer, tiefer. Und dann höre ich, was ich hören will, ganz leise und weit weg, wie aus einer anderen Welt. Es kommt aus dem Nest. Es ist das zarte, feine Piepsen der Küken. Ich lächele. Und dann höre ich noch etwas, das genauso leise und zart ist, genauso weit weg, genauso drängend.
    Das Baby weint.
    Plötzlich biegt der mürrisch aussehende Arzt mit seinem mürrisch aussehenden Auto in unsere Straße ein. Er parkt vor dem Haus, genauso wie damals, als es noch Mr Myers gehörte. Er betrachtet die Straße mit seinen mürrisch aussehenden Augen. Dann öffnet sich die Tür und er geht hinein. Gleich darauf taucht eine Krankenschwester auf. Sie geht rasch – viel zu rasch – von einem Ende der Straße bis zum Haus und verschwindet ebenfalls darin.
    Ich lausche.
    Nichts.
    Nur mein Herz. Nur die Küken. Nur die Stadt.
    Dann steht Mama hinter mir.
    „Mr Myers’ Arzt ist gekommen“, sage ich.
    „Mr Myers’ Arzt?“
    „Ja. Wegen des Babys.“
    „Woher willst du wissen, dass es wegen des Babys ist?“
    „Eine Krankenschwester ist auch da.“
    „Eine Krankenschwester? Das ist nur Routine, ganz sicher.“
    „Ich habe die Amseljungen gehört“, sage ich. „Und dann habe ich das Baby weinen gehört.“
    Während wir noch dastehen, fährt wieder ein Auto vor. Eine zweite Krankenschwester geht ins Haus. Ich kaue auf meiner Unterlippe. Ich zittere leicht. Es ist so seltsam. Ich habe das Gefühl, als ob auch ich gerade erst geboren worden wäre, als ob ich an der Schwelle zu einem ungeheuren Abenteuer stehen würde. Aber das Gesicht des Arztes. Und die Krankenschwestern. Und die Sorgenfalten auf Mamas Stirn.
    „Es ist wahrscheinlich ganz normal“, sagt sie. „Ein kleines Baby, erst ein paar Tage alt.“
    Die Amseln kreischen. Ich sehe Wisper in den Schatten unter der Hecke herumschleichen. Ich zische. Verscheuche ihn mit den Armen. Er krabbelt rückwärts, weiter ins Dunkel hinein. Aber seine Augen funkeln trotzdem.
    Mama zieht mich ins Haus. Wir essen Toast und trinken Tee. Immer wieder gehe ich zum Fenster. Eine Stunde vergeht. Noch eine. Dann kommt die erste Krankenschwester aus dem Haus und geht weg. Ich sage es Mama. Sie kommt, und wir schauen wieder gemeinsam hinüber. Dann kommt auch die zweite Krankenschwester. Sie schaut auf ihre Armbanduhr, reibt sich die Augen, steigt in den Wagen und fährt davon.
    Aber kein Arzt. Niemand sonst.
    „Wenn wir draußen wären, könnten wir das Baby hören“, sage ich. „Dann könnten wir hören, ob es ihr gut geht.“
    „Es geht ihr bestimmt gut. Manchmal ist es einfach ein bisschen schwierig, überhaupt in diese Welt zu kommen. Das ist alles.“
    Ich sehe, wie Wisper aus den Schatten kriecht und das Ohr in Richtung des Nestes spitzt.
    Ich klopfe gegen das Fenster und fletsche die Zähne. Er schaut mich an, beschließt, mich zu ignorieren und schleicht weiter.
    Endlich kommt der Arzt aus dem Haus. Er bleibt mit dem Vater im Türrahmen stehen, und sie schütteln einander die Hände. Der Arzt schaut mürrisch die Straße entlang und fährt dann weg.
    „Gott sei Dank“, sagt Mama. Sie seufzt erleichtert. „Es kann nichts Ernstes sein.“
    „Nichts Ernstes“, wiederhole ich.
    Ich fauche Wisper an.
    „Nein!“, befehle ich ihm. „Nein!“
    Mama schaut auf ihre Armbanduhr.
    „Ich gehe nachher mal rüber und frage, ob ich irgendwie helfen kann.“
    Ich sitze am Fenster und gehe mit einem Stift auf einem Blatt Papier spazieren.
    Die Stunden vergehen. Mama geht über die Straße zu dem Haus, aber sie kommt sehr schnell wieder zurück.
    „Was ist los?“, will ich wissen.
    Sie zuckt mit den Schultern. „Hat sich angehört, als ob sie im Augenblick ziemlich … aufgeregt sind. Das kann ich auch gut verstehen. Ich versuche es später noch mal.“
    Der Junge kommt auf die Straße. Die Fäuste geballt. Der Blick hart.
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