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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman
Autoren: Stollfuß
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was heißt hier autonom? Wieso stehen in Berlin überhaupt Häuser leer? Und wo bleiben die Panzer der Polizei?«
    »Na ja«, murmelte er, »es ist dort eben alles ein wenig anders als bei uns. Es kommt vor, dass nicht in jedem Haus Menschen leben. Und mit den Panzern gehen die Deutschen seit dem Krieg sehr vorsichtig um. Wegen ein paar besetzter Häuser regen die sich halt nicht so auf.«
    »Sie regen sich wegen besetzter Häuser nicht auf? Da muss ich hin!«
    Kurz danach traf ich einen anderen Freund von mir, Mischa, mit dem ich zusammen zur Schule gegangen war. Er wollte ebenfalls sofort nach Deutschland. Wir beschlossen, zusammen zu fahren – mit dem Zug. Er hatte das Geld für die Fahrkarten, und ich kannte jemanden in Berlin, bei dem wir zur Not übernachten konnten: Die beste Freundin meiner Mutter, Tante Inna. Sie hatte während ihres Studiums einen Studenten aus Karl-Marx-Stadt geheiratet. Zuerst lebten beide in Moskau, in den achtziger Jahren zogen sie nach Berlin. Aber meine Mutter und Tante Inna blieben trotz der Entfernung gute Freunde. Meine Mutter besuchte sie sogar zweimal in der DDR. Ich bat meine Mutter, ihre Freundin anzurufen und um eine offizielle Einladung für uns zu bitten. Nach zwei Wochen hatte ich schon den grünen Zettel mit Zirkel und Sichel drauf in der Hand – unsere Freikarte in die große weite Welt. Unter der Zeile »Ziel der Reise« hatte Tante Inna »Das Wiedersehen« eingetragen.
    Das Einzige, was wir nicht auftreiben konnten, war westliche Währung. Die russischen Banken hatten schon zu diesem Zeitpunkt keine Ostmark mehr, weil die Währungsunion bereits durchgeführt worden war, und Westmark durften sie uns nicht geben, weil wir nach Ost-Berlin eingeladen worden waren. Die Wiedervereinigung war also noch nicht komplett. Auf der Straße waren ausländische Währungen enorm populär, sie wurden zu übertrieben hohen Preisen angeboten, sodass wir uns keine leisten konnten. Zum Glück kamen einige Schauspieler aus der Werkstatt gerade von einem Gastspiel aus der BRD zurück. Der eine hatte noch drei Westmark von der Reise übrig, die er mir freundschaftlich überließ.
    »Ist das viel oder wenig?«, fragte ich ihn.
    »Schwer zu sagen, deren Preise kannst du mit unseren nicht vergleichen: Für drei Mark bekommst du dort ein Kilo Bananen oder ein Brot, du kannst damit Straßenbahn fahren oder drei Tafeln Schokolade kaufen.«
    Für mich klang das sehr verwirrend. Bei uns konnte man für eine Tafel Schokolade einen Monat lang Straßenbahn fahren und für ein Kilo Bananen zwei Kisten Brot kaufen. Ich versteckte die drei Westmark für alle Fälle in meiner Socke.
    Am 22. Juni standen Mischa und ich am weißrussischen Bahnhof. Die Menschen in der Bahnhofshalle rannten von einer Kasse zur anderen.
    »Gibt es Karten nach Riga? Nein? Dann Vilna! Oder Brest?«
    »Tausche zwei Fahrkarten nach Brest gegen eine nach Riga!«
    In der Mitte der Halle stand eine Gruppe von Denkmälern: Zwei Lenin-Statuen aus Bronze, ein Lenin-Kopf aus Gips, ein kleiner Marx und ein Glatzköpfiger mit Schnurrbart aus Bronze, den ich nicht kannte. Sie sollten entweder auch nach Riga verreisen oder kamen gerade von dort und waren in der Bahnhofshalle stecken geblieben. Keiner kümmerte sich um die Denkmäler, niemand wollte sie haben. Zusammen stellten sie ein neues Monument dar: Revolutionäre auf Reisen. Versteinert vor Wut.
    Wir hatten unsere Fahrkarten schon in der Tasche, uns ging das Durcheinander am Bahnhof nichts an. Ich amüsierte mich und schlenderte in der Halle herum. Ein alter Mann, der anscheinend schon seit Tagen auf dem Bahnhof lebte und seinem Reiseziel noch immer nicht näher gekommen war, fragte mich, ob ich seine Bücher kaufen wolle. Ich hatte noch ein bisschen Geld und zeigte Interesse. Es waren aber keine Reisebücher, sondern dicke Folianten, jeder drei bis fünf Kilo schwer. Der alte Mann sah so erschöpft aus und verlangte einen so niedrigen Preis, dass mir klar wurde: Er wollte sie unbedingt los werden, mochte sie aber nicht wegschmeißen. »Was soll's«, dachte ich und befreite ihn von seiner Last. Die drei »Archipel GULAG«-Bände von Solschenizyn und drei Sciencefictionromane rissen mir nun meine Reisetasche geradezu von den Schultern. Dafür war uns die geistige Unterhaltung im Zug gesichert. Mischa besorgte inzwischen was zu essen.
    »Die Passagiere des Zugs 2103 nach Berlin werden gebeten...«, kam es aus dem Lautsprecher. Ein letztes Mal kuckten wir uns die Denkmalgruppe in der Halle
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