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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman
Autoren: Stollfuß
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ein Taxi, um meine Mutter und mich aus dem Grauermann-Krankenhaus abzuholen. Das Krankenhaus befand sich auf dem Kalinin-Prospekt im Zentrum der Hauptstadt, dort wo jetzt eine große Apotheke, eine Sparkasse und ein Schönheitssalon sind.
    »Biegen Sie hier rechts ab«, sagte mein Vater, um dem Fahrer den Weg zu weisen, als das Auto den Kalinin-Prospekt erreichte.
    »Das kann ich nicht«, antwortete der Fahrer, »alles ist abgesperrt, wegen des Jubiläums. Man darf hier nirgendwo abbiegen, wir müssen geradeaus fahren.«
    »Ich muss meinen neu geborenen Sohn aus dem Grauermann-Krankenhaus abholen«, erklärte mein Vater.
    »An so einem großen Tag? Herzliche Glückwünsche, Sie sollten ihn Oktobrin nennen oder ähnlich. Trotzdem kann ich hier nicht rechts abbiegen«, sagte der Taxifahrer.
    »Na, dann.« Mein Vater holte seine Geldbörse aus der Hosentasche und gab ihm 25 Rubel. Das Auto machte sofort einen großen Bogen mitten auf dem Prospekt und fuhr direkt auf den Bürgersteig vor dem Krankenhaus.
    »Ihr seid aber freche Kerle«, wunderte sich ein dicker Straßenpolizist, der gerade daneben stand. Er bekam von meinem Vater ebenfalls 25 Rubel. Genau dieselbe Summe steckte er dann auch dem Wächter des Krankenhauses zu, damit er reindurfte, ebenso der Krankenschwester, die mich herausbrachte, und der Tante aus der Registraturabteilung, damit sie mich schnell eintrug. Mein Vater gab auf diese Weise exakt einen ganzen Monatslohn im Krankenhaus aus. Dafür hatte er nun mich. Mit demselben Taxi brachte er dann meine Mutter und mich nach Hause zurück. Überall standen Polizisten, an jeder Ecke hingen große rote Fahnen.
    Ich konnte sie damals natürlich noch gar nicht sehen. Ich war noch ein Baby und lag auf dem Rücksitz eines alten Wolgas, in eine weiße warme Decke bis über den Kopf eingewickelt.
    ***
    Meine Mutter sagte, ich war ein sehr ruhiges Kind, lächelte gern Fremden zu, schrie so gut wie gar nicht und pinkelte in die Windeln nur auf ihren Befehl. Ich glaube meiner Mutter, weil sie dreißig Jahre lang an der Schule unterrichtet und immer die Wahrheit gesagt hat. Laut meiner Mutter fing ich sehr früh an zu sprechen.
    In der Nähe unseres Hauses stand ein kleiner Wald, in dem wir oft spazieren gingen. Auf der anderen Seite des Waldes befand sich ein Irrenhaus, das alle nur »das gelbe Haus« nannten, wegen der Farbe der Fassade. Die Irren kletterten oft über den Zaun und irrten im Wald herum. Ich konnte noch nicht richtig laufen und saß voller Stolz auf einem roten Plastikpanzer, den meine Mutter an einem Strick hinter sich herzog. Plötzlich sprang ein Irrer aus einem Busch. Es war ein Exhibitionist. In der Hand hielt er seinen riesigen Schwanz, groß wie eine Panzerkanone. Er starrte uns an und wir ihn. Meine Mutter war sprachlos vor Angst und fuchtelte nur mit den Händen. Ich schrie auf einmal: »Hau ab!« Der Mann verschwand sofort wieder hinter dem Busch, und wir rannten nach Hause. Damals, als kleines Kind, wusste ich noch nicht, dass Exhibitionisten genau so harmlos wie Ameisen sind. Nun weiß ich es. Doch vor 32 Jahren war es ein Schock für mich, ein psychisches Trauma. Aufgrund dieses Vorfalls fing ich an zu sprechen und kann bis heute nicht damit aufhören.
    Schon im Kindergarten entdeckte ich diese Leidenschaft fürs Geschichtenerzählen. Während der Ruhestunden, wenn die Erzieherin sich in die Küche zurückzog, um den von uns übrig gelassenen Brei aufzuessen, erzählte ich meinen Kindergarten-Genossen alle möglichen Geschichten. Ich konnte ihre Fragen viel umfassender beantworten als die dafür zuständigen Verantwortlichen. Über alles wusste ich Bescheid: über Flüge zum Mars, wo Gold vergraben sein musste, und wie sich die Menschen fortpflanzten. Ich konnte alles bis in die kleinsten Einzelheiten erklären, nur ein Haken war dabei: Meine Geschichten stimmten nicht. Ich war nämlich ein totaler Spinner. Die Folgen mancher meiner Geschichten waren haarsträubend. Als ein paar Kumpel aus meiner Kindergartengruppe meine Version der menschlichen Fortpflanzung in die Realität umzusetzen versuchten, kam es beinahe zu schlimmen Körperverletzungen. Meine Mutter musste sich ständig die Beschwerden des Personals anhören, ich würde die anderen Kindern verderben. Aber sie lachte nur.
    Später in der Schule entwickelte sich meine erzählerische Leidenschaft weiter. Ob Chemie oder Geschichte, Geographie oder Biologie, ich trat gern an der Schultafel auf, doch meine Formeln entpuppten sich als
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