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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman
Autoren: Stollfuß
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Schauspielerin mit einer sehr jungen Stimme. Sie saß im Rollstuhl und war von ihren ehemaligen Theaterkollegen vollkommen vergessen worden. Eine Familie hatte sie auch nicht.
    Nachdem sich mein Vater von seinem Schock erholt hatte und sie sich näher kennen gelernt hatten, wurden sie gute Freunde. Mein Vater erzählte der Frau, dass er einen Sohn habe, der ständig nur irgendwelche Geschichten erzählen würde und dabei unfähig sei, etwas Solides zu lernen. »Dann muss er auf die Theaterschule«, sagte die alte Frau, »ich kenne dort den Chef.«
    Ich machte schnell aus meinen acht Klassen über die Abendschule zehn und ging zur Theaterschule, um Dramaturgie zu studieren. Bei der Aufnahmeprüfung konnte ich mir den alten Spaß nicht verkneifen: Voller Inbrunst schrieb ich einen fünfseitigen Aufsatz zum Thema »Die Entscheidungen des XX. Parteitages und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung der Landwirtschaft«. Mein Aufsatz stieß auf große Begeisterung.
    Beim Studium lernte ich dann endlich viele Gleichgesinnte kennen. Nicht nur alle Studenten, auch die Lehrer waren größtenteils Hochstapler. Dies lag vor allem daran, dass wir eine Disziplin studierten, die vornehmlich aus heißer Luft bestand. Die meisten ausländischen Autoren, die wir im Studienprogramm hatten, waren nicht ins Russische übersetzt und entweder verboten oder wenigstens unerwünscht. Als Lehrliteratur benutzten wir meist Bücher, die von unseren eigenen Lehrern verfasst worden waren. Daneben erzählten wir uns gegenseitig Filme, die keiner gesehen hatte, und redeten über Bücher, die niemand kannte.
    Die Dozentin für Theatergeschichte berichtete uns so leidenschaftlich vom Theater der Antike als hätte sie selbst bei allen Stücken Regie geführt.
    »Wissen Sie, wie sich eine antike Tragödie von einer zeitgenössischen unterscheidet?«, fragte sie uns und beantwortete ihre Frage gleich selbst: »In der antiken Tragödie stirbt am Ende nur der Held, in einer zeitgenössischen geht auch der Chor mit drauf.« Viel später erfuhr ich, dass dies ein Zitat von Josef Brodski war. Dieses merkwürdige Studium entwickelte unsere Fantasie nur noch mehr: Von Beckett und Albee, Ionesco und Mrochek erfuhren wir nur aus solchen Büchern wie »Die Verderblichkeit der Kunst in der kapitalistischen Gesellschaft« oder »Die Krise der bourgeoisen Kultur«. Davon war unsere Institutsbibliothek voll. Gleichzeitig durften wir aus der Theaterbibliothek seltene Bücher über die Avantgarde in den Zwanzigerjahren ausleihen und entdeckten dabei eine Kultur, die in unserem Land totgeschwiegen wurde. Durch das Studium gewann ich ein neues Bild von Russland und seinen Menschen.
    Noch während der Ausbildung fingen viele von uns angehenden Dramaturgen an zu arbeiten. Unsere Pädagogen waren auch unsere ersten Auftraggeber, weil sie alle noch hundert Nebenjobs übernommen hatten. Im zweiten Semester bekam ich ein Praktikum am Majakowski-Theater. Es war damals eines der berühmtesten Moskauer Theaterhäuser, und viele Fernsehstars standen dort auf der Gehaltsliste. Deswegen umzingelten jeden Abend Hunderte von Fans das Majakowski-Theater. Die jungen Mädchen kamen aus allen fünfzehn Republiken der Sowjetunion, um ihren Favoriten, den Schauspieler X oder den Schauspieler Y, wenigstens einmal lebend zu sehen. Dazu bildeten sie Gruppen und überwachten das Haus Tag und Nacht von allen Seiten.
    Am meisten profitierten davon die Techniker: Beleuchter und Bühnenarbeiter. Kurz vor Beginn des Spektakels gingen sie raus und schnappten sich ein paar besonders hübsche und rücksichtslose Mädchen. Unter dem Vorwand, sie würden ihnen das wirkliche Leben des Theaters zeigen, brachten sie die Mädchen hinter die Bühne und erklärten ihnen, wer in einem Theater eigentlich das Sagen hätte und die Liebe der Mädchen wirklich verdienen würde: nicht der längst verheiratete Schauspieler X oder Y, sondern sie, die Bühnentechniker, machten die Verzauberung durch die Kunst erst möglich.
    Die Schauspieler selbst fürchteten ihre weiblichen Fans wie die Pest. Oft trauten sie sich nicht allein aus dem Theater nach Hause und saßen bis um drei Uhr morgens in der Kantine. Ihre Fans waren oft gewalttätig. Einmal griffen die Mädchen zum Beispiel die schwangere Frau des Schauspielers X an und drohten, sie umzubringen, wenn sie dem Schauspieler X eine Tochter statt eines Sohnes gebären würde. Der Schauspieler Y musste sich mehrmals unter seinem Wagen verstecken. Einmal, als er im Stau in
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