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Gute Nacht: Thriller (German Edition)

Gute Nacht: Thriller (German Edition)

Titel: Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Autoren: John Verdon
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1
    Frühling
    Die Terrassentür stand offen.
    Von seinem Platz neben dem Frühstückstisch konnte Dave Gurney erkennen, dass sich die letzten Schneeflecken wie Gletscher aus der offenen Wiese zurückgezogen hatten und sich nur noch in besonders schattigen Winkeln der umliegenden Wälder hielten.
    Die würzigen Aromen der feuchten Erde und des ungemähten Grases vom letzten Sommer wehten in die Küche des Bauernhauses. Magische Gerüche, die ihn früher in ihren Bann gezogen hatten. Doch jetzt berührten sie ihn kaum.
    »Geh doch raus«, meinte Madeleine, die gerade an der Spüle ihre Müslischüssel abwusch. »Raus in die Sonne. Es ist einfach herrlich.«
    »Ja, das seh ich.« Er bewegte sich nicht.
    »Setz dich auf einen von den Adirondacks und trink dort deinen Kaffee.« Sie stellte die Schüssel in das Abtropfgestell. »Ein bisschen Sonne würde dir sicher guttun.«
    »Hm.« Nach einem unbestimmten Nicken nahm er wieder einen Schluck aus seinem Becher. »Ist das der gleiche Kaffee, den wir immer haben?«
    »Ist was damit?«
    »Hab ich nicht gesagt.«
    »Ja, es ist die gleiche Sorte.«
    Er seufzte. »Ich glaube, ich krieg eine Erkältung. Seit zwei Tagen schmecken die Sachen nach fast gar nichts mehr.«
    Sie legte die Hände auf die Kante der Kücheninsel und musterte ihn. »Du musst einfach mehr rauskommen. Du musst was tun. «
    »Stimmt.«
    »Im Ernst. Du kannst nicht den ganzen Tag im Haus hocken und die Wand anstarren. Das macht dich krank. Klar, dass du da nichts mehr schmeckst. Hast du Connie Clarke schon zurückgerufen?«
    »Mach ich später.«
    »Wann?«
    »Wenn mir danach ist.«
    Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihm in absehbarer Zeit danach sein würde. So fühlte er sich einfach im Augenblick – seit einem halben Jahr bereits. Als hätte er sich nach den Verletzungen, die er am Ende des bizarren Mordfalls Jillian Perry davongetragen hatte, völlig aus dem normalen Leben zurückgezogen: Er mied alltägliche Aufgaben, Pläne, Menschen, Telefonanrufe, Vereinbarungen jeder Art. Es war so weit mit ihm gekommen, dass ihm nichts so lieb war wie der Anblick einer leeren Kalenderseite für den kommenden Monat – keine Verabredungen, keine Zusagen. Rückzug war für ihn inzwischen gleichbedeutend mit Freiheit.
    Immerhin reichte seine Objektivität noch aus, um zu erkennen, dass diese Entwicklung nicht gut für ihn war, dass ihm diese Freiheit keinen Frieden brachte. Nicht Gelassenheit prägte seinen Gemütszustand, sondern Feindseligkeit.
    Bis zu einem gewissen Grad verstand er die seltsame Entropie, die das Gewebe seines Lebens zersetzte und ihn immer mehr isolierte. Zumindest konnte er aufzählen, worin er ihre Ursachen sah. Ganz oben siedelte er den Tinnitus an, an dem er seit dem Erwachen aus dem Koma litt. Sehr wahrscheinlich hatte dieser schon zwei Wochen davor eingesetzt, als in einem kleinen Zimmer drei Schüsse aus nächster Entfernung auf ihn abgegeben worden waren.
    Das beharrliche Geräusch in seinen Ohren (das nach Auskunft des Facharztes eigentlich eine vom Gehirn fälschlicherweise als Geräusch gedeutete neuronale Anomalie war) ließ sich am ehesten als hohes, leises Zischen beschreiben. Die bei Rockmusikern und Kriegsveteranen stark verbreitete Erscheinung stellte ein anatomisches Rätsel dar und war abgesehen von einigen Fällen, bei denen es spontan wieder verschwand, meistens unheilbar. »Offen gestanden, Detective Gurney«, lautete das Fazit des Arztes, »wenn man bedenkt, dass Sie ein schweres Trauma und Koma hinter sich haben, dann können Sie von Glück sagen, dass Sie mit einem leisen Klingeln in den Ohren davongekommen sind.«
    Gegen diese Einschätzung ließ sich wenig einwenden. Doch das machte es auch nicht leichter für ihn, sich an das schwache Fiepen zu gewöhnen, das ihn plagte, sobald es um ihn herum still wurde. Vor allem nachts war es ein Problem. Was untertags dem harmlosen Pfeifen eines Teekessels in einem entfernten Zimmer glich, gewann in der Dunkelheit eine unheimliche Dimension, die ihn umschloss wie eine kalte, metallische Atmosphäre.
    Dazu kamen die Träume – klaustrophobische Träume über seine Erlebnisse im Krankenhaus, Erinnerungen an die beengende Manschette, die seinen Arm ruhiggestellt hatte, und an seine Atemprobleme –, die nach dem Erwachen ein anhaltendes Gefühl der Panik in ihm hinterließen.
    Noch immer war da eine taube Stelle an seinem rechten Unterarm, wo die erste Kugel des Angreifers das Handgelenk zerschmettert hatte. Diese Stelle prüfte
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