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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman
Autoren: Stollfuß
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und musste zur Strafe zwei Monate lang an einem Aerobic-Workshop teilnehmen, der jeden Tag um acht Uhr morgens im Ballettsaal des Theaters stattfand.
    »Herr Stein bringt euch wieder in Form«, drohte der Chef auf jeder Theaterversammlung. »Er bringt euch die Gummibärchen-Gymnastik bei, und zwar so lange, bis jeder sich selbst am Arsch lecken kann!«
    Den Choreographen Stein, der diese Strafmaßnahme leitete, fürchtete jeder im Theater. Die Schauspieler passten daher höllisch auf, sich nicht betrunken erwischen zu lassen, und trotzdem gewann das Aerobic-Ensemble jeden Monat neue Mitglieder. Stein freute sich jedes Mal, wenn ein Neuankömmling in seinen Workshop geriet. »Sie sehen aus wie eine Bulette, aber keine Sorge, in zwei Wochen werden Sie sich im Spiegel nicht mehr wieder erkennen. Legen Sie sich auf den Tisch und heben Sie bitte die Beine an.« Mit diesen Worten sprang der Choreograph Stein auf den Schauspieler und zog ihm kräftig die Beine über den Kopf. Die Knochen knackten, im Ballettsaal roch es stark nach Schweiß und Alkohol.
    Stein war ein kleiner, sehr temperamentvoller Mann Mitte dreißig, der fünf Jahre das berühmte »Jüdische Theater« in Moskau geleitet hatte und wegen politisch unkorrekten Verhaltens vor Gericht gekommen war. Er selbst hielt sich für einen Dissidenten, der gegen das Regime gekämpft hatte, obwohl die Anklage gegen ihn anders lautete: Er wurde wegen schweren Angriffs auf einen Straßenpolizisten zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Seine Mutter, eine verdiente Schauspielerin der Sowjetunion, hatte jedoch gute Beziehungen zum Kulturministerium. Also musste Stein seine Strafe nicht in einem gesundheitsschädigenden Chemiebetrieb abbüßen, sondern im Majakowski–Theater dem Staat zwei Jahre als Choreograph dienen.
    Stein selbst meinte, die ganze Geschichte mit dem Milizionär wäre eine einzige KGB-Provokation gewesen. Die Staatssicherheit hätte einfach »Das jüdische Theater« schließen und ihn selbst eliminieren wollen. Diesen Wunsch des KGB konnte bald jeder im Majakowski-Theater gut nachvollziehen. Stein war ein wahrhaftiger Querulant. Deswegen zweifelte niemand von uns daran, dass er dem Milizionär tatsächlich den Zeigefinger abgebissen hatte.
    Es war so: Stein hatte eine schwedische Freundin, die bei ihrer Botschaft in Moskau arbeitete. Die Frau war dann auch oft bei uns im Theater. Sie war freundlich, rothaarig und riesengroß, mindestens dreimal so groß wie ihr Freund Stein. Er nannte sie denn auch »mein Berg«. Berg und Stein – das war ein einzigartiges Pärchen. In gewisser Weise war sie an seiner Verhaftung schuld gewesen, weil sie ihm ihr Auto zur Verfügung gestellt hatte, einen weißen Mercedes mit Nummernschildern der schwedischen Botschaft. Es gab damals in Moskau nicht viele Autos von dieser Sorte. Stein raste mit dem Ding durch die Stadt, und kein Polizist wagte es, ihn anzuhalten. Aber wie ein russisches Sprichwort sagt: »Für jeden Arsch findet sich irgendwann einmal ein Bohrer.«
    Eines Tages wurde der rasende Stein von einem Milizionär angehalten.
    »Weißt du, mit wem du es zu tun hast? Siehst du die Nummernschilder nicht?«, rief Stein ihm aus dem Auto zu, »das wird dich deinen Job kosten, du Affe!«
    Der Polizist ließ sich nicht beeindrucken.
    »Steigen Sie bitte aus«, sagte er ruhig, »ich möchte Ihre Papiere sehen.«
    »Ich denke gar nicht dran«, erwiderte Stein.
    »Dann muss ich Ihren Wagen bis auf weiteres beschlagnahmen«, entschied der Polizist und streckte seine Hand ins runtergelassene Fenster, um die Autoschlüssel an sich zu nehmen.
    Der verrückte Stein biss ihn mit aller Kraft in den Finger und gab Gas. Der vom Künstler gebissene Polizist bewahrte Ruhe. Er benutzte die restlichen Finger, um sich schnell die Nummer des Wagens zu notieren. So kam Stein vor Gericht, und der verletzte Polizist sagte gegen ihn aus.
    »Das nächste Mal beiße ich dir den Kopf ab«, schrie Stein im Gerichtssaal.
    Und nun musste ich als Praktikant mit diesem Mann im Majakowski-Theater zusammenarbeiten.
    Obwohl ich so gut wie gar nicht getrunken habe und wenn schon, dann nur um den Schauspielern Gesellschaft zu leisten, fiel ich beim Chef in Ungnade. Neben der Regieassistenz bei den Kindermärchen am Wochenende gehörte es zu meinen Pflichten, bei den Proben der aktuellen Produktion anwesend zu sein. Ich sollte Kaffee und Tee kochen, Aschenbecher leeren, für den Chef neue Bleistifte besorgen, mit einem Wort: die übliche Arbeit eines
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