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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman
Autoren: Stollfuß
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Sozialistische Erziehung
    1967 feierte unser Land ein wichtiges Jubiläum – fünfzig Jahre sind seit der Großen Oktoberrevolution vergangen. Für die real existierenden sozialistischen Kleinbürger gab es nicht viele Gründe, stolz auf ihr Land und die dort herrschende Ordnung zu sein. Sie hatten mit dieser Ordnung etliche Probleme: das Wurstproblem, das Zuckerproblem, das Butterproblem und unzählige andere, welche die Sowjetunion für sie unattraktiv machten. Für einen Romantiker sah die Realität dagegen sehr positiv aus. Denn im Ballett waren wir die Nummer eins. Keine Ballerina der Welt konnte so toll springen wie die unseren. Das größte Atomkraftwerk zu bauen war auch nur in der Sowjetunion möglich, und den ersten Mann ins Universum hatten wir auch geschickt.
    Den ersten Hund, den ersten Mann, die erste Rakete. Diese hervorragenden Errungenschaften und beeindruckenden Ergebnisse hatten wir der Großen Oktoberrevolution zu verdanken. Darum ging es bei dem Jubiläum 1967. Alle Zeitungen, Fernsehsendungen, Radioprogramme, Betriebsversammlungen berichteten über diese Erfolge und die zukünftigen Perspektiven. Die Menschen hörten zu und waren im Großen und Ganzen der Großen Oktoberrevolution dankbar. Dankbar fürs Ballett und dankbar für Jurij Gagarin, dessen Buch »Der Blick von oben« planmäßig zum Jubiläumsfest erscheinen sollte. Ausschnitte aus Gagarins Werk wurden in der
Literaturnaja Gazeta
vorveröffentlicht. Dort erzählte der Kosmonaut, wie toll die Sowjetunion von oben aussieht: die blauen Flüsse, die mit Schnee bedeckten Berge und die grünen, saftigen Wälder. Gagarin hatte sich sogar einige kritische Bemerkungen erlaubt: »Viele Flüsse müssen noch überbrückt, die Steppen gepflügt und die kleinen Dörfer elektrifiziert werden. Wir haben noch viel zu tun.«
    Zu diesem Zeitpunkt rasten zwei Hunde, Belka und Strelka, in ihrer Kapsel, die noch vor Gagarin in den Kosmos geschossen worden war, seit nunmehr sechs Jahren sinnlos um die Erde herum. Offiziell waren sie für tot erklärt worden. Es war nie vorgesehen, dass die Kapsel mit den Hunden jemals auf der Erde landete. In der Kosmonautensiedlung »Sternenstadt« in der Nähe von Moskau errichtete man ein kleines Museum, in dem einige Souvenirs von Belka und Strelka, deren Namen auf Deutsch so viel wie »Eichhörnchen« und »Pfeilchen« bedeuten, präsentiert wurden.
    Alle Pioniere, die für ihre Schulleistungen mit einem Ausflug in die Sternenstadt ausgezeichnet wurden, konnten dort das Halsband von Eichhörnchen und den Maulkorb von Pfeilchen besichtigen, dazu ein Foto von den beiden. Die Hunde führten ein bescheidenes Leben und besaßen nicht viel. Die meisten Pioniere interessierten sich nicht besonders für das Museum, eher für den Lebensmittelladen der Kosmonautensiedlung, in dem es damals schon ganz ungewöhnliche Sachen zu kaufen gab, wie zum Beispiel lange Zigaretten der Marke
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. Laut den Informationen der Kosmonauten, unter anderem Gagarins selbst, waren die Helden Belka und Strelka immer noch am Leben. Man erzählte sich, dass Gagarin in privatem Gespräch zugegeben habe, einmal durch das Bullauge seiner Rakete die Hundekapsel gesehen und lautes Bellen im Universum gehört zu haben. Das Ganze dauerte nur einige Sekunden, die Kapsel raste schnell an Gagarin vorbei, das Bellen löste sich im Nichts auf.
    1967 wurde die Hundekapsel endgültig zerstört, um weitere »Missverständnisse« zu vermeiden. Ohne einen sichtbaren Grund fing Gagarin gleichzeitig an zu saufen. Er konnte sich nicht mehr auf sein Buch »Der Blick von oben« konzentrieren, das eigentlich schon längst hätte fertig sein sollen. Er erzählte seinen Kosmonauten-Kollegen, dass das Universum ein schwarzes Loch sei, die Erde einem verfaulten Kürbis ähnlich sehe und die Sowjetunion aus der Ferne überhaupt nicht zu erkennen sei. Sein Werk blieb für immer unvollendet. Gagarin wurde vom Dienst suspendiert und drehte frustriert sinnlose Runden mit seinem kleinen Flugzeug, das ihm Chrustschow geschenkt hatte. Er flog durch die Wolken und suchte den Tod, bis er 1968 endlich abstürzte. Man hat später ein Tal auf dem Mond nach ihm benannt, das sich allerdings auf der Schattenseite des Planeten befindet und von der Erde aus nie zu sehen ist. Außerdem wurde eine Kleinstadt ihm zu Ehren umbenannt. Es war aber nur eine ganz kleine, ohne Eisenbahnverbindung und ohne Flughafen – ein Dorf genau genommen. Kurz vor seinem Absturz wurde ich geboren.
    Mein Vater nahm
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