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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman
Autoren: Stollfuß
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riet ihm meine Mutter immer wieder, seine Gedichte seien Ohrwürmer und geistschädigend. Unsere vernichtende Kritik machte meinem Vater nichts aus. Im Gegenteil, er gelangte zu der Überzeugung, dass erst die kommenden Generationen seine unerhörte Begabung wirklich schätzen würden. Doch wie konnten die kommenden Generationen von meinem Vater erfahren? Nur durch Öffentlichkeit. Dazu benutzte er seine Autorität als stellvertretender Leiter der Abteilung Planwesen – und veröffentlichte seine Liebesgedichte auf den Kulturseiten der Fachzeitung
Die Stimme der Süßwasserflotte
unter dem Künstlernamen »Der Seewolf«. Außerdem schickte er die Werke an sein Vorbild, den berühmten sowjetischen Dichter Jewgeni Jewtuschenko. Dazu schrieb er ihm lange Briefe:
    »Als Privatmensch bin ich eigentlich ganz glücklich, doch als Dichter fühle ich mich oft von meiner Umgebung missverstanden. Was meinen Sie, Herr Jewtuschenko? Soll ich vielleicht alle zum Teufel schicken und einfach nach Sibirien fahren? Am Aufbau des Bratsker Kraftwerks mitwirken? Meine Horizonte werden hier immer enger. Mich lockt das weite Land. Antworten Sie mir bitte.«
    Der Dichter Jewtuschenko antwortete ihm jedoch nie.
    Immer am Wochenende, wenn es mit dem Dichten nicht richtig klappte, widmete sich mein Vater meiner Erziehung. Er war der Meinung, ich sei so gleichgültig und faul, weil ich noch nichts von der Welt gesehen hatte, nichts Abenteuerliches. Im Sommer 1979 schickte mich mein Vater daher in das Ferienlager »Der junge Seemann«, das seinem Betrieb gehörte. Das Ganze glich einem Pionierlager, nur dass sich dort auch ältere Jugendliche zwischen sechzehn und achtzehn herumtrieben: Die Binnenflotte kümmerte sich um ihre nächste Arbeitergeneration. Das Camp »Der junge Seemann« befand sich etwa dreißig Kilometer von Moskau entfernt mitten in einem alten Fichtenwald, und es gab weit und breit keinen See in der Gegend.
    Gleich am Eingang bekamen wir kleine rote Fahnen, zwei Stück pro Nase. Damit sollten wir das Morsealphabet lernen. Das Lager bestand aus drei Wohnblöcken und einem großen Lehrraum mit Seekarten an den Wänden und Schiffsmodellen in den Ecken. Außerdem gab es noch eine Sommerkantine, die nur aus einem Dach bestand. Im »Jungen Seemann« gab es keine Frauen, nur Männer. Dafür wohnten gleich nebenan viele hübsche Mädchen im Pionierlager »Das Goldwölkchen«, wo sich die Kinder der Mitarbeiter der Moskauer Zigarettenfabrik »Dukat« erholten.
    Die Jungen Seemänner kletterten nachts über den Zaun und suchten auf dem Goldwölkchen-Gelände nach weiblichen Bekanntschaften. Mit Feuerzeugen bewaffnet drückten sie ihre Nasen an den Fenstern der Schlafbaracke platt. Die Mädchen erschreckten sich zwar, fanden aber diese Besuche lustig. Die Jungs im Goldwölkchen-Lager fanden das Ganze jedoch überhaupt nicht lustig. Sie jagten die Seemänner durch den Wald, stellten Fallen und zündeten sogar einmal unsere Sommerkantine an. Die Unseren hatten aber nichts zu verlieren und gingen trotzdem jede Nacht auf das feindliche Territorium. Bis die Direktoren der beiden Lager sich zusammensetzten und eine Lösung fanden: eine gemeinsame Tanzveranstaltung jeden Donnerstag und Samstag. Damit war dann der Krieg auch wirklich zu Ende.
    Die ersten vier Wochen im Lager fühlte ich mich wie Tarzan in der grünen Hölle. Die Konversation mit unserem Direktor und den drei Lehrern erfolgte zum größten Teil per Morsealphabet. Viele alltägliche Maßnahmen wie der Aufruf zum Essen in der Kantine oder zum Unterricht erfolgten nur durch Fahnenschwingen. Jeden Tag schwenkten wir drei Stunden lang unsere Fahnen hin und her und lernten das Morsealphabet. Und überall im Lager sah man die Morsezeichen: an den Wänden, auf Plakaten, draußen im Hof, im Schlafraum. Dazu noch jede Menge Seeschiffe verschiedener Baujahre. Nach zwei Wochen bekamen wir kleine Morsegeräte und konnten damit nun überall knistern.
    Der Tag im Lager begann schon um sechs. Mit Morgengymnastik auf dem Hof und Grießbrei zum Frühstück in der Sommerkantine. Um Punkt sieben Uhr saßen wir in einem großen Lehrraum. Wir bauten kleine Schiffe zusammen und anschließend wieder auseinander, lernten, wie Navigationsgeräte funktionieren, und knisterten einander Botschaften im Morsealphabet zu. Danach spielten wir drei Stunden lang Fußball auf dem Feld hinter dem Lager zusammen mit den Jungs aus »Goldwölkchen«, die uns ständig hänselten: »Matrose, Matrose, schenk mir
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