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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman
Autoren: Stollfuß
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der Nähe des Theaters stecken geblieben war und die Fans daraufhin seine Kleider als Souvenirs zerrissen hatten, musste er die restlichen hundert Meter zum Noteingang nackt laufen.
    Als junger Praktikant war ich zunächst von dem Theaterleben schwer begeistert. Obwohl das Theater sich gerade inmitten einer Krise befand. Der Chefregisseur des Hauses hatte viele ausländische Autoren inszeniert, deren politische Botschaft zu dunkel war: Neil Simon, Tennessee Williams, Virginia Woolf, noch mal Tennessee Williams und noch mal... Der Verantwortliche für die ideologische Ausrichtung der Moskauer Bühnen beim Kulturministerium besuchte unseren Chefregisseur fast jede Woche in seinem Kabinett.
    »Warum setzen Sie keine Stücke sowjetischer Autoren auf den Spielplan? Interessiert Sie die sozialistische Problematik etwa nicht?«
    Der Chef war im Krieg zweimal verwundet worden, zuletzt bei der Erstürmung Berlins, und mindestens zwanzig Orden zierten seine Brust.
    »Das hier ist mein Theater, eines der besten in unserem sozialistischen Vaterland«, antwortete er dem Beamten, »und ich habe mir im Krieg die Freiheit erkämpft, jetzt das zu inszenieren, was ich für nötig erachte. Für die sozialistische Problematik habe ich mein Blut vergossen, als du noch in die Hose gepinkelt hast, also lass mich mit deinen Ratschlägen in Ruhe.«
    Eine Zeit lang hielt sich das Kulturministerium auch wirklich vom Majakowski-Theater fern und gewährte ihm einen besonderen Status. Aber dann wurden die anderen Bühnen auf unsere Insel der Freiheit eifersüchtig. Warum darf das Majakowski-Theater immer wieder ausländische Autoren inszenieren und wir nicht?, hakten sie im Kulturministerium nach. Also bekam der Chef die dringende Anweisung, ein politisches Drama zu inszenieren, auf Empfehlung von ganz oben. Das von einem bekannten KGB-Politologen verfasste Drama wurde ihm auch sogleich zugeschickt. »In Santiago regnet es« hieß das Stück. Es handelte vom Putsch in Chile – mit viel Krach und Latinoliebe. Unser einäugiger bisexueller Parteizellenleiter im Schauspielerkollektiv durfte Pinochet spielen. Er war außer sich vor Freude, endlich einmal wieder eine große Rolle bekommen zu haben. Vor drei Jahren hatte er bei einem Autounfall ein Auge verloren und seitdem immer nur den bösen Geist aus der Truhe im Kindermärchen »Ivan, der König« gespielt – und das jeden Sonntag um zehn Uhr. Jetzt durfte er endlich wieder mit den anderen zusammen auf der großen Bühne stehen.
    Keiner der Stars wollte Allende spielen. Das Stück war entsetzlich pathetisch und ziemlich schlecht. Es hatte allerdings eine einzige gute Actionszene: Als Allende von all seinen Freunden allein gelassen wird und sein Präsidentenpalast von den Panzern der Armee eingekesselt ist, springt er mit einer Kalaschnikow von einem Fenster zum anderen und schreit: »Ihr kriegt mich niemals, verdammte Verräter.« In diesem Moment begreift Pinochet irgendwie, dass die Panzer gegen Allende machtlos sind. Er schleicht sich in den Präsidentenpalast mit einer dunklen Brille und einem Messer in der Hand... Das Ganze erinnerte an Caesar und Brutus. Aber insgesamt war das Stück kitschig, und die Geschichte des Putsches wirkte eher peinlich als tragisch.
    Nach langem Hin und Her bekam der Schauspieler X wegen seines soliden Aussehens die Rolle von Salvador Allende und musste die ganze Zeit auf der Bühne mit einer Kalaschnikow in der Hand herumlaufen. Ganz begeistert war er darüber nicht: »Ich habe erwachsene Kinder. Sie werden mich auslachen! Darf ich nicht einen der Soldaten spielen?«, jammerte er jeden Tag auf den Proben. Bei dieser Theaterproduktion wollte keiner, außer dem einäugigen Pinochet, im Vordergrund stehen, alle waren nur scharf auf die kleine Rolle eines Soldaten im Hintergrund, der nur zweimal die Bühne betreten musste: einmal am Anfang, wo er so etwas wie eine Ansage machte: »Dies ist die traurige Geschichte von Salvador Allende, von seinem Aufstieg und seinem Tod...« Am Ende kam der Soldat noch einmal, schaute sich die Leichen an und schüttelte stumm den Kopf – kurzum: eine Traumrolle.
    Meine Rolle als Praktikant war nicht viel größer. Ich wurde zuerst wie jeder Neuankömmling ins Kindermärchen am Wochenende gesteckt und spielte dort die Regieassistenz. Als solche musste ich aufpassen, dass alle Schauspieler rechtzeitig auf der Bühne standen, und zwar nüchtern und möglichst im richtigen Kostüm. Außerdem sollten ihre Texte in etwa dem originalen
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