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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman
Autoren: Stollfuß
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Märcheninhalt ähneln. Bei den Kindervorstellungen waren fast ausschließlich junge neue Schauspieler beschäftigt, die ihre Probezeit noch nicht absolviert hatten, und manchmal dauerte »Ivan, der König« eine ganze Stunde länger als geplant. Die Kinder, das dankbarste Publikum der Welt, entwickelten gegenüber den Schauspielern eine große Toleranz. Die meisten hatten »Ivan, der König« bereits mehrmals gesehen und gaben den neuen Ivan-Darstellern jedes Mal gute Ratschläge, wenn sie mal wieder die Orientierung zwischen den Guten und den Bösen verloren oder gar vergessen hatten, die schöne, kluge Prinzessin zu befreien.
    Der Grund für solche und ähnliche Pannen war der ständig steigende Alkoholkonsum unter den jungen Schauspielern. Bei den Abendvorstellungen waren immer zwei Administratoren anwesend. Sie liefen durch die Garderobe mit einem Alkohol-Messgerät wie bei der Streifenpolizei, und jeder Schauspieler musste einmal reinpusten. Wer mehr als 0,5 Promille hatte, durfte nicht auf die Bühne. Nur bei den Kinderstücken gab es keine Kontrollen, weil kein Administrator Lust hatte, seine Sonntagvormittage im Theater zu verbringen. Und deshalb endeten unsere Märchen auch jedes Mal anders. Einmal war das fliegende Wunderpferd – ein sehr begabter junger Mann, frisch von der Theaterschule – auf der Bühne eingeschlafen. Dadurch geriet der König in eine blöde Situation: Er steckte in der Schatzhöhle fest ohne jede Fluchtmöglichkeit, von den Räubern umzingelt. Diese seine Erzfeinde mussten nun improvisieren. Sie schlossen kurzfristig einen Frieden und zerrten mit dem König zusammen das Wunderpferd von der Bühne.
    Ein andermal passierte dasselbe Unglück mit dem Geist aus der Truhe: Er kam einfach nicht raus. Ivan, der König, erklärte daraufhin den Kindern, der Geist sei unsichtbar geworden, und so musste der Schauspieler nun für den Rest der Vorstellung außer seinem eigenen auch noch den Text des Geistes sprechen. Wieder ein anderes Mal hatten zwei Bühnentechniker, die unseren Wundervogel – eine hübsche junge Schauspielerin – an zwei Seilen hochziehen und wieder herunterlassen mussten, am falschen Seil gezogen. In dem Glauben, der Wundervogel sei bereits wieder unten, waren sie weggegangen. Die junge Schauspielerin hing aber weiter in der Luft, eine ganze Stunde lang, und schimpfte wie ein Rohrspatz. Anstatt den König zu verführen, erschreckte sie die Kinder mit für einen Wundervogel ganz unüblichen Kraftausdrücken.
    Trotz oder vielleicht gerade wegen der vielen Pannen lief unser Märchen sehr erfolgreich und war bei den Moskauer Kindern, aber auch bei vielen Eltern, beliebt. Auch nach über vierhundert Vorstellungen gab es an den Vormittagen so gut wie niemals einen freien Platz. Darauf war der Chef stolz. Das Majakowski-Theater bekam am wenigsten staatliche Subventionen, der Chef wollte Unabhängigkeit und entwickelte eine fixe Idee: Ein gutes Theater kann mit vielen Inszenierungen auch ganz ohne Zuschüsse über die Runden kommen. Deswegen hatten wir manchmal, zum Beispiel am Sonntag, drei Vorstellungen hintereinander: ein Märchen am frühen Vormittag, ein Jugenddrama am Nachmittag und ein Shakespeare-Stück am Abend. Manchmal kam es sogar noch zu einer vierten Vorstellung, als Gastspiel in einem Kulturhaus.
    Für das relativ kleine Ensemble war ein solcher Terminplan sehr anstrengend. Die Schauspieler waren oft überreizt und brachten ihre Rollen durcheinander. Einmal verkündete Lady Macbeth plötzlich auf der Bühne, dass sie nicht zum Geburtstag ihrer Englischlehrerin gehen würde, und brachte dadurch ihren Kollegen in große Schwierigkeiten. Für die Insider waren ihre Aussagen gut nachvollziehbar. Sie wussten, dass Lady Macbeth bereits am Nachmittag in einem Jugenddrama über Freundschaft und Verrat die Hauptrolle gespielt hatte. Doch für die normalen Zuschauer war es ein Rätsel, wofür Lady Macbeth Englisch-Unterricht brauchte.
    Allein mit Hilfe von Alkohol gelang es den Schauspielern, sich schnell und leicht in eine neue Rolle hineinzufinden. Dem Chefregisseur war bewusst, dass er zu viel von seinen Mitarbeitern verlangte, deswegen entwickelte er eine gewisse Nachsicht dem Alkohol gegenüber. Was vor und nach der Vorstellung in den zahlreichen Garderoben des Hauses passierte, interessierte ihn nicht. Nur auf der Bühne musste jedes Ensemblemitglied einigermaßen trocken wirken. Einer, der sich betrunken vom Publikum erwischen ließ, bekam ein langfristiges Spielverbot
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