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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder
Autoren: Sam Hayes
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    Dreißig Sekunden, nachdem ich bemerkt hatte, dass mein Baby weg war, tropfte mir Milch aus den Brüsten. Ich weiß noch, wie mir der blöde Gedanke durch den Kopf schoss, dass ich jetzt meinen Pflichtbesuch bei den Schwiegereltern mit feuchten Flecken auf der Bluse absolvieren musste. Ich hatte nur kurz am Supermarkt gehalten, um einen Kuchen zu kaufen. Einen von der Sorte, die aussieht wie selbst gebacken – ich hoffte, Sheila weismachen zu können, dass ich ihn gerade frisch aus dem Ofen geholt hatte. Sogar einen passenden Teller und ein Tortendeckchen hatte ich dafür besorgt. Meine Natasha, die fast den ganzen Weg über geschrien hatte, schlief endlich tief und fest. Ich war nur zwei winzige Minütchen weg gewesen, doch als ich zum Wagen zurückkam, war der Babysitz auf der Rückbank leer. Wo Natasha gelegen hatte, befand sich eine Delle im Kissen und auf der Steppdecke war ein kleiner ovaler Fleck – geronnene Milch, die Folge eines Bäuerchens.
    Ich ließ den Kuchen auf den frostharten Boden fallen und suchte hektisch den ganzen Wagen ab. Mir schossen die blödsinnigsten Ideen durch den Kopf. Hatte ich sie doch mit in den Supermarkt genommen und im Einkaufswagen vergessen? Oder hatte sich eine nette alte Dame in Natashas niedliches Gesichtchen verguckt? War mein Baby womöglich ein Wunderkind, das mit acht Wochen schon allein losgelaufen war? Konnte es sein, dass Andy auf der Suche nach mir meinen Wagen entdeckt und die Kleine herausgeholt hatte, um ein bisschen mit ihr zu schmusen? Er durfte das, schließlich war er der Vater.
    Ich hatte das Auto ganz bestimmt abgeschlossen.
    Beim Aussteigen stieß ich mir den Kopf. Natasha war fort. Kostbare Sekunden verstrichen. Und dann fing meine Milch an zu tropfen. Das Brennen in meinen Brüsten sagte mir, dass ich unbedingt stillen musste. Doch mein Baby war nicht mehr da.
    Die Augen gegen die niedrig stehende Wintersonne zusammengekniffen, ließ ich den Blick panisch über den Parkplatz schweifen. Was wäre es für eine Erleichterung gewesen, wenn mich meine Natasha jetzt über Andys Schulter hinweg angeschaut hätte! Wie sehr wünschte ich mir, dass mein Baby in Sicherheit wäre! Dann hätten sich meine schlimmsten Befürchtungen mit einem Schlag verflüchtigt, und die Welt wäre wieder in Ordnung gewesen. Seltsamerweise waren in dem Moment kaum Leute in der Nähe, nur ein älteres Paar, das seine Einkäufe im Kofferraum verstaute.
    »Andy!«, wollte ich rufen, doch es kam nur ein Krächzen. Die Kehle war mir wie zugeschnürt, und mein Atem ging stoßweise und keuchend. Fieberhaft starrte ich in jeden Winkel des Parkplatzes, bis mir alles vor den Augen verschwamm und es in meinen Ohren rauschte. Da drehte ich völlig durch.
    »Tasha!« Diesmal war meine Stimme laut und durchdringend. Es klang wie ein Urschrei. Mit gespreizten Beinen stand ich da, die Fäuste geballt, die Schultern hochgezogen. Doch schon im nächsten Moment stürmte ich los, durch die Reihen der parkenden Wagen, und schrie immer wieder den Namen meines Babys. Als ich mich den beiden älteren Leuten näherte, hoben sie abwehrend die Hände, als hätten sie Angst, ich wollte sie überfallen.
    »Haben Sie mein Baby gesehen?« Sie gaben keine Antwort. Wahrscheinlich hatten sie meine panisch hervorgestoßenen Worte gar nicht verstanden. Mir war klar, dass jetzt jede Sekunde zählte. Ich rannte weiter und schrie dabei Natashas Namen, bis mir die Stimme versagte, taumelte zwischen den Autos hindurch, stieß mich schmerzhaft mal rechts, mal links. Schließlich rutschte ich auf einer vereisten Stelle aus und fiel hin.
    Jemand legte mir die Hand auf die Schulter. Ich blickte hoch, sah eine leuchtend gelbe Plastikjacke. Im selben Augenblick hörte ich ein Baby schreien.
    Ich sprang auf, stellte mich auf die Zehenspitzen und lauschte angestrengt. Irgendwo in einem Auto jaulte ein Hund. Ich hörte das Summen und Pfeifen eines Gabelstaplers, der Paletten mit Lebensmitteln von einem Lieferwagen hob, das Rattern von Einkaufswagen, die ein junger Bursche auf dem Parkplatz einsammelte und zusammenschob. Meine Sinne waren zum Zerreißen gespannt.
    Und da war es wieder – das Schreien eines Babys.
    Durch die Geräuschkulisse ringsum drang das Wimmern, das Brüllen, das Kreischen eines verlassenen Säuglings. Natasha! Das unablässige Geschrei hallte schmerzhaft in meinem Schädel wider, bis er zum Zerspringen pochte. Ich wusste nicht, in welche Richtung ich laufen sollte.
    Ich stieg auf einen Poller und von dort
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