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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman
Autoren: Stollfuß
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wussten die Dagebliebenen nicht mehr, wer eigentlich noch mitspielte. Jede Woche gab es eine große Versammlung, auf der diese Frage geklärt werden sollte.
    »Wo ist der junge Regisseur X.?«, fragte der Direktor besorgt. »Ich habe in seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.«
    »Er ist jetzt in Kanada und hat uns gerade einen Brief geschickt«, antwortete eine Stimme aus dem Saal.
    »Und – geht es ihm gut?«
    »Ja, er hat sich auf einer Maisplantage beworben.«
    »Dann ist ja gut«, beruhigte sich der Direktor und strich den Mann von der Gehaltsliste.
    »Aber was ist mit dem Schauspieler Y?«
    »Er spielt den Puschkin in einem Fernsehfilm in Österreich.«
    »Und der Schauspieler Z?«
    »Der ist noch hier.«
    Und so weiter. Trotz der ungewissen Lage beschloss ich, als Dramaturg an einem Theaterprojekt der Werkstatt aktiv teilzunehmen. Es war ein Dostojewskij-Projekt: seine spirituelle Erfahrung, projiziert auf die gegenwärtige Situation in Russland. Aber der Irrsinn, die zunehmende Absurdität des Alltags überrollte uns, machte unser Vorhaben zum Kinderkram. Die Premiere fand in einer verlassenen Kirche statt, in der Nähe eines großen Bahnhofs. Der war von Flüchtlingen aus allen Republiken überfüllt, die nicht mehr wussten, wo sie hin sollten. Auf der Suche nach einem ruhigen Ort, an dem sie sich aufwärmen und ausschlafen konnten, entdeckten sie unser Theater. Die Eintrittskarten kosteten damals so viel wie ein Glas Tee im Bahnhofsrestaurant. Auf diese Weise hatten wir fast zu jeder Vorstellung den Saal voll mit schlafenden, übermüdeten Menschenmassen.
    »Wegfahren! Weit weg! Die Welt kennen lernen, den Golf von Neapel sehen! Den Sonnenuntergang! Die schönen Frauen! Was halten Sie davon?«, beschwor jeden Abend die Hauptfigur in unserem Stück eine andere Hauptfigur. Und das Publikum schnarchte dazu. Dieser »Golf von Neapel« und der »Sonnenuntergang« ging uns allen derartig auf den Geist, dass es für viele der Mitwirkenden unerträglich wurde. Sie schätzten ihre Kunst mehr als das Leben draußen. Ein paar Schauspieler verabschiedeten sich daraufhin in Richtung Amerika, wo sie kurz zuvor in Hollywood ein Praktikum gemacht hatten. Mein Freund, der Regisseur, meinte, dass er dringend einen Urlaub bräuchte und fuhr dann mit seiner Familie für einige Jahre nach England. Die Einladung hatte er seit langem zu Hause liegen gehabt.
    Eines Tages verschwand auch unserer Direktor aus seinem Kabinett. Die Tür stand offen. Der Wind blätterte in den Gehaltslisten auf seinem Tisch. Der Direktor hatte in Jerusalem einen neuen Anfang versucht. Ich wurde auch langsam reif für eine Reise.
    ***
    Es war im Juli 1990. Asphalt und Staub schmolzen zusammen, Menschenmassen füllten die Stadt, und ich hatte nichts zu tun. Einmal ging ich morgens mit einem Bier in der Hand ins Kino. Es war eine gute Idee, sich um 11.00 Uhr den »Schatten des Samurais« anzugucken, im Originalton ohne Untertitel und in einem extra für solche intellektuellen Filme eingerichteten Filmtheater. Ich saß ganz allein im Saal, die Samurais auf der Leinwand führten endlose Gespräche miteinander auf Japanisch. Der eine Samurai trug einen blauen Rock, der andere einen roten. Jedes Mal wenn der Rote zu dem Blauen »Samurai Isura« sagte, nahm ich einen tiefen Schluck aus der Flasche und fragte mich: Warum bin ich eigentlich noch hier? Anschließend besuchte ich meinen Armee-Kameraden Andrej. Er arbeitete gleich in der Nähe in einer Fernsehreparaturwerkstatt.
    Andrej, mit seinem blauen Arbeitskittel, erinnerte mich sofort an den Samurai aus dem Film. Ich sagte »Samurai Isura« zu ihm, was auf Japanisch so viel heißt wie: »Du Samuraigesicht«. Er meinte, die Hitze sei an seinem Aussehen schuld, es sei unerträglich heiß draußen, nur hier in der Werkstatt könne man noch einen anständigen Samurai-Schatten finden. Dann holte er ein paar Flaschen Bier aus dem Kühlschrank. In zwei Dutzend frisch reparierten Fernsehern liefen derweil die Nachrichten. Nichts Besonderes, alles wie immer. Zuerst wurde ein neuer Traktor gezeigt, dann ein Politiker, der gerade gestorben war. Nach ihm kamen in irgendwelche Schläuche gewickelte russische Kosmonauten und schließlich eine Wettervorhersage. Die letzten fünf Minuten waren traditionell Nachrichten aus dem Rest der Welt gewidmet. Darunter war auch ein Bild aus Deutschland: Die Autonomen hatten einige leer stehende Häuser in Ostberlin besetzt.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich Samurai Andrej, »und
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