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Militärmusik - Roman

Militärmusik - Roman

Titel: Militärmusik - Roman
Autoren: Stollfuß
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das russische Publikum zu verzaubern. Doch sie sang dazu noch auf Französisch und lächelte milde. Patrizia war einer der ersten westlichen Stars, die unser Land für sich entdeckt hatte, und ihre Auftritte sorgten stets für großen Wirbel.
    Katzman guckte sich den Clip mit Patrizia Kaas wieder und wieder an. Dabei vergaß er San Francisco. Er ging auch nicht mehr zum Unterricht, um Englisch unter Hypnose zu lernen. Stattdessen verkaufte er seine wertvolle Plattensammlung und folgte der französischen Sängerin auf ihrer Tournee durch die Sowjetunion. Es hätte eine romantische Geschichte über eine hoffnungslose Liebe daraus werden können. Irgendwann wird er bestimmt wieder zu sich kommen und dann darüber lachen, dachten wir. Es kam aber anders.
    Katzman war leider nicht der Einzige gewesen, den dieser Schicksalsschlag getroffen hatte: Tausende von Menschen waren unterwegs, sie alle folgten Patrizia Kaas, angezogen von dem Gefühl eines glücklichen, sorglosen Daseins, das diese Frau ausstrahlte. Schüler und Rentner, Familienväter und Armeeoffiziere, Kluge und Dumme, alle fielen der französischen Sängerin zum Opfer. Meine Landsleute, die jahrzehntelang nur von Kosmonauten und Bergarbeitern im Fernsehen angesprochen worden waren, wurden von einem solchen Angriff von Schönheit völlig überrumpelt. Davor hatte es nur eine einzige Sendung mit ausländischen Stars gegeben. Sie wurde einmal im Jahr, in der Silvesternacht, übertragen und hieß: »Das Tollste aus aller Welt!« Ab drei Uhr nachts, wenn die Regierung sicher sein konnte, dass alle Kinder des Landes längst im Bett waren und sich über den Glamour des Auslands nicht mehr unnötig aufregen konnten, bekamen die Eltern Karel Gott, Dean Reed, Boney M. und die Tanzgruppe aus dem Friedrichstadtpalast zu sehen.
    »Das Tollste aus aller Welt!« hatte keine besonders erotisierende Wirkung auf das Volk. Die Sänger waren öde und die meisten Zuschauer nach dem vielen Anstoßen auf das neue Jahr müde. Auch in die Tanzgruppe des Friedrichstadtpalastes konnte man sich nur schwer verlieben. Mit ihren vielen Federn und den langen Beinen, die alle im gleichen Rhythmus synchron über die Bühne steppten, ähnelten die Tänzer einem glitzernden Tausendfüßler. Die meisten Zuschauer schliefen um vier Uhr schon fest. Erst als Patrizia Kaas sich im sowjetischen Fernsehen einnistete, erwachten sie aus ihrem Schlaf. Der relativ kleine Busen der französischen Sängerin sorgte für große Aufregung in der breiten Masse der Bevölkerung. Viele ließen einfach alles stehen und liegen und fuhren los.
    Die Miliz bekämpfte die so genannten »Kaas-Züge« so gut sie konnte. Denn überall, wo die Französin hinkam, sei es in eine Kleinstadt im Süden oder in die Hauptstadt einer Republik, verbreiteten die Fans Unruhe und hinterließen ein Chaos. Außerdem gewann sie in jeder Stadt neue Anhänger. Es war eine Massenpsychose. In Archangelsk zum Beispiel arbeiteten Hunderte von Menschen eine ganze Nacht lang, um ein zwei Kilometer langes Transparent an einer Ufermauer anzubringen: »Wir lieben Patrizia, wir danken Patrizia, wir bleiben mit Patrizia zusammen.«
    Die Miliz hätte Frau Kaas am liebsten nach Hause geschickt und ihre durchgedrehten Fans in den Knast, doch das ging nicht mehr. Die Partei förderte gerade einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, also musste sich die Miliz auf mündliche Propaganda beschränken. Dazu wurden die Züge mit den Patrizia-Fans oft auf tote Gleise umgeleitet, wo junge Beamte die Menschen mit Hilfe eines Megaphons davon zu überzeugen versuchten, doch lieber wieder zurück nach Hause zu fahren: »Vergesst Patrizia Kaas!«, beschwor die Miliz das Volk, »geht zu euren Frauen und Kindern zurück!« Aber alles war umsonst.
    Die Sängerin selbst hatte zahlreiche und gut ausgebildete Bodygards, außerdem wurde sie in jeder Stadt von Spezialeinheiten des russischen Militärs überwacht. Insofern bekam Patrizia von der Liebe der Russen nicht allzu viel mit. Besonders aufdringliche Fans, die sogar bereit waren, über Leichen zu gehen, um ihr Idol persönlich kennen zu lernen, und dazu die Bodygards angriffen, wurden von der Spezialeinheit abgegriffen und dann von der Miliz nach Hause transportiert. Damit sie sich nicht gleich wieder auf den Weg zurück machen konnten, bekamen sie eine vorsorgliche Einweisung in die Psychiatrie, für zwei bis drei Wochen. Ihre Pässe behielt die Miliz so lange ein, und ohne die konnten sie Patrizia nicht
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