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Mephisto

Mephisto

Titel: Mephisto
Autoren: Klaus Mann
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Hornbrille in die Richtung des Fensters. Aber das armselige Geschoß traf den Gegner nicht und zerbrach mit einem leisen Klirren an der Wand.
    Der fürchterliche Gast war verschwunden. Hendrik eilte ans Fenster, um ihm noch etwas nachzurufen. »Ich bin überhaupt unentbehrlich!« schrie der Intendant in den dunklen Garten. »Das Theater braucht mich, und jedes Regime braucht das Theater! Kein Regime kann ohne mich auskommen!«
    Er bekam keine Antwort; von dem rotbärtigen Fassadenkletterer war keine Spur mehr zu sehen. Ihn schien der nächtliche Garten verschluckt zu haben. Der nächtliche Garten rauschte mit seinen schwarzen Bäumen, seinen dunklen Büschen, auf denen die weißen Blüten ein mattes Schimmern hatten. Der Garten schickte seine Düfte und seinen kühlenden Atem. Hendrik wischte sich die feuchte Stirne. Er bückte sich, hob die Brille auf und stellte mit Betrübtheit fest, daß sie zerbrochen war. Langsam und mit etwas schwankenden Schritten ging er durchs Zimmer, wobei er sich tastend wie ein Blinder an den Möbeln hielt; denn seine Augen waren noch getrübt vom Entsetzen, und übrigens fehlte ihnen die gewohnte Brille.
    Während er sich in einen der niedrigen, breiten Fauteuils sinken ließ, spürte er, wie unendlich müde er war. Was für ein Abend! dachte er, und empfand tiefes Mitleid mit sich, wenn er bedachte, was er alles ausgestanden hatte. Dergleichen wirft ja den Stärksten um. Dabei legte er sein feuchtes Gesicht in die Hände. Und ich bin nicht der Stärkste. – Es wäre angenehm gewesen, jetzt ein wenig zu weinen. Aber er wollte nicht Tränen vergießen, die niemand sah. Nach all den Schrecken, die hinter ihm lagen, glaubte er nun Anspruch zu haben auf die tröstliche Nähe eines lieben Menschen.
    Ich habe sie alle verloren, klagte er. Barbara, meinen guten Engel; und Prinzessin Tebab, die dunkle Quelle meiner Kraft; und Frau von Herzfeld, die treue Freundin, und sogar die kleine Angelika –: alle habe ich sie eingebüßt. – In seiner großen Wehmut fand er, daß der tote Otto Ulrichs zu beneiden sei. Der brauchte keine Schmerzen mehr zu ertragen; der war erlöst von der Einsamkeit dieses bitteren Lebens. Seine letzten Gedanken aber waren die des Glaubens und einer stolzen Zuversicht gewesen. – War nicht sogar Miklas beneidenswert – Hans Miklas, dieser trotzige kleine Feind? Beneidenswert waren alle, die glauben konnten, und doppelt beneidenswert jene, die im Rausch des Glaubens ihr Leben gegeben hatten …
    Wie war dieser Abend zu überstehen? Wie war hinwegzukommen über diese Stunde voll tiefer Ratlosigkeit, voll Angst und voll einer Sehnsucht, die ins Leere irrte und der Verzweiflung verwandt schien? – Hendrik meinte, daß er die Einsamkeit kaum noch ein paar Minuten länger würde ertragen können.
    Er wußte: oben, in ihrem Boudoir, erwartete ihn seine Frau – Nicoletta. Wahrscheinlich trug sie unter dem leichten Seidengewand die hohen, geschmeidigen Stiefel aus glänzendem rotem Leder. Die Peitsche, die auf dem Toilettentisch neben Dosen, Pasten und Flacons lag, war von grüner Farbe. Bei Juliette war die Peitsche rot, die Stiefel aber waren grün gewesen …
    Hendrik konnte hinauf zu Nicoletta gehen. Sie würde den scharfen Mund schlängeln zu seiner Begrüßung; sie würde möglichst blanke Katzenaugen machen und irgend etwas Scherzhaftes, vorbildlich Akzentuiertes äußern. – Nein, es war nicht das, was Hendrik jetzt wollte – nicht dies, was er eben nun so dringend brauchte.
    Er ließ die Hände vom Gesicht gleiten. Sein getrübter Blick suchte sich in der Dämmerung des Zimmers zurechtzufinden. Mit Mühe gelang es ihm, die Bibliothek, die großen gerahmten Photographien, die Teppiche, Bronzen, Vasen und Gemälde zu erkennen. Ja, es sah fein und elegant hier aus. Er hatte es weit gebracht, das konnte niemand bestreiten. Der Intendant, Staatsrat und Senator, eben noch als Hamlet gefeiert, erholt sich im komfortablen Arbeitszimmer seines herrschaftlichen Heimes …
    Hendrik stöhnte wieder. Da öffnete sich die Tür. Es war Frau Bella, die eintrat. Es war seine Mutter.
    »Mir kam es vor, als hätte ich hier Stimmen gehört«, sagte sie. »Hattest du noch Besuch, mein Lieber?«
    Er wandte ihr langsam das fahle Gesicht zu. »Nein«, sagte er leise. »Es war niemand hier.«
    Sie lächelte: »Wie man sich irren kann!« Dann trat sie näher an ihn heran. Er bemerkte jetzt erst, daß sie sich im Gehen mit einer Handarbeit beschäftigte: es war ein großes wollenes Stück,
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