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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen
Autoren: Julia Kröhn
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Gunnora starrte Seinfreda an, las die eigene Sorge in ihrer Miene: Bot der Hohlraum genug Luft zum Atmen? Allerdings würde das Töten nicht mehr lange dauern. Bis auf die vier Schwestern konnte kaum mehr einer am Leben sein.
    Seinfredas Haut wirkte nicht mehr weiß, sondern bläulich. Gunnora ertrug es nicht, sie anzusehen, deshalb schloss sie die Augen.
    Sie zitterten, die Zähne klapperten, die Haut brannte.
    »Ist es vorbei?«, fragte Seinfreda.
    »Psst.«
    Wellen schlugen an das Boot, sonst hörten sie nichts. Immer tiefer versanken ihre Füße in den Grund, nicht sandig dieser, sondern schlammig. Gunnora öffnete ihre Augen wieder, spähte durch eine Ritze zwischen den Planken.
    Die Toten konnte sie nicht erkennen – einen ihrer Mörder jedoch ganz genau. Er war von seinem Pferd gesprungen, schritt, das Schwert fest umklammert, den Strand auf und ab und hielt Ausschau nach Überlebenden. Sein Gesicht schien nicht aus Fleisch und Blut zu sein, sondern aus Eisen gehämmert. Sie schloss die Augen vor Schreck, öffnete sie erneut, erkannte nun, dass nicht das Gesicht aus Eisen war, sondern nur sein Helm mit den genieteten Bronzeplatten, an dem ein mandelförmiger Schutz für Wangen und Nase angebracht war. Über dem Helm trug er eine Kapuze aus Eisenmaschen, an einem Kettenhemd befestigt, der nur die Unterarme freiließ. Die Sonne fiel auf den Mann, ließ alles an ihm silbrig glänzen. Nur das Kreuz, das von seiner Brust baumelte, war aus Holz und blieb matt.
    Gunnora wusste nicht, ob er ein Normanne oder ein Franke war – ihr Vater hatte stets gesagt, dass diese beiden Völker hier nicht zu trennen seien. Sie wusste auch nicht, warum er und seine Mitstreiter die Siedler aus Dänemark und Schweden mitsamt den Händlern, auf deren Schiffen sie gekommen waren, niedergemetzelt hatten – gleich jenen, die wohl in den letzten Tagen angekommen waren. Sie wusste nur, er war Christ, und sie würde entweder durch seine Hand sterben oder er durch ihre.
    Der Mann, der das Zeichen der Christen um den Hals trug, ging noch eine Weile auf und ab. Er keuchte kaum hörbar. Schließlich verschwand er aus ihrem Sichtfeld. Das Knirschen des Sandes verstummte, das Hufgetrappel, das ihm folgte, alsbald auch.
    Kein Klagelaut durchbrach mehr die Stille. Die Schwestern waren verstummt, alle anderen hatten das Massaker nicht überlebt. Nur die Möwen kreischten, und Gunnora fragte sich jäh, ob sie die Toten wohl wie Aasgeier fressen würden.
    Gemeinsam mit Seinfreda kippte sie das Boot zurück und watete zum Strand. Die Sonne versteckte sich hinter den Wolken, und der Sand war nicht länger blutrot, sondern schwarz.
    Ein verwunschenes Land, dachte Gunnora, unfruchtbar, dem Tode geweiht … Wir hätten nicht hierherkommen dürfen … es ist die Heimat von Christen, nicht unsere …
    Gunnora war nicht getauft, obwohl der Vater es so gewünscht hatte, zumindest zum Schein. Viele Dänen hielten das so – vor allem die, die in der Normandie eine neue Heimat suchten. Sie ließen sich mit dem Kreuzzeichen segnen, aber nicht mit Wasser begießen, erklärten, an Jesus Christus zu glauben, aber verehrten im Herzen die Götter – wie die Nordmänner, die einst dieses Land erobert und ihm seinen Namen gegeben hatten. Die meisten von diesen waren Christen geworden – der erste Graf der Normandie, Rollo, erst als Erwachsener, seine Nachfolger Wilhelm und Richard bereits als Kinder. Aber das, so hatte ihr Vater einmal gesagt, bedeute nicht, dass sie ihre Herkunft vergessen hätten.
    Wie auch immer – die Mutter hatte der Vater nicht überzeugen können, sie hatte sich geweigert, einen christlichen Priester auch nur in die Nähe ihrer Töchter zu lassen. Die Mutter war schließlich eine Meisterin der Runen. Und nun lag sie reglos und blutüberströmt im Sand: Die Macht der Runen hatte sie nicht vor dem grausamen Tod bewahrt.
    Gunnora hielt Duvelina die Hände vor die Augen, um sie vor dem Anblick zu bewahren; sie selbst jedoch konnte sich ihm nicht blind stellen. Das grässliche Bild fraß sich in ihre Seele, während sie die Schwestern hastig mit sich zog. Weit und breit waren nirgendwo die Pferde ihres Vaters zu sehen. Sie waren entweder geflohen oder von den Mördern mitgenommen worden – in jedem Fall hatten wenigstens sie überlebt.
    »Wohin?«, fragte Seinfreda.
    Gunnora wusste es nicht. Sie brauchten trockene Kleidung, Essen, Feuer, ein Dach über dem Kopf. Sie brauchten Hilfe, Zuspruch, Trost. Doch weder kannte sie die Namen ihrer
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