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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen
Autoren: Julia Kröhn
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höre, locke ich sie in die falsche Richtung.«
    »Aber ich kann doch nicht …«
    »Doch du kannst!«
    Gunnora packte Seinfredas Arm. Er war so dünn wie all ihre Glieder, und dennoch: Als sie ihren Blick suchte, stand etwas darin, das sich nicht brechen, nicht fortwehen, nicht erschlagen ließ. Der Wille, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen – für sich selbst, und vor allem für die Schwestern.
    Seinfreda nickte. Die beiden Jüngeren hingegen nahmen die Entscheidung nicht hin. Wevia schrie spitz und hoch, Duvelina klammerte sich an sie. Gunnora bog mit Gewalt ihre zarten Fingerchen auf und glaubte dabei, ihr Herz würde brechen. Allerdings – war es nicht schon zerbrochen? Lief sie nicht längst schon auf Scherben und konnte doch noch gehen, ohne dass ihre Fußsohlen davon zerschnitten wurden?
    »Tut, was ich euch sage!«
    So streng hatte sie noch nie gesprochen. So erwachsen hatte sie sich noch nie gefühlt.
    Die Mädchen erschraken und folgten Seinfreda ins Dickicht. Hoffentlich ist das eine gute Entscheidung, dachte Gunnora, als nichts mehr von ihnen zu sehen und zu hören war. Nun, da sie allein war, fühlte sie sich nicht mehr streng und alt, sondern verzagt wie ein kleines Mädchen, das sich nach den Armen seines Vaters sehnt, nach den weisen Worten der Mutter, nach der Heimat.
    Wir haben es doch gut gehabt, warum sind wir nur fortgegangen? Gewiss, wir froren manchmal, aber das tue ich jetzt auch … Wir litten Hunger, doch da war kein Christ, der uns töten wollte.
    Gunnora lehnte sich an einen Baumstamm, barg das Gesicht in ihren Händen. Das Leben war einfach, aber friedlich gewesen. Ob Pferdezüchter oder Bauer, Jäger, Fischer oder Fallensteller … jeder hatte gleich viel oder gleich wenig besessen. Meist war es wenig. Einmal fiel die Ernte so schlecht aus, dass das Gesetz erlassen wurde, wonach mit Gerste nur mehr Brot zu backen war, kein Bier zu brauen. Die Menschen, allen voran ihr Vater, wollten nicht darauf verzichten. Sie mischten Bier mit Algensuppe oder einer Brühe aus Baumrinde, legten Früchte darin ein und aßen es anstelle von Brot.
    Gunnoras Magen knurrte. Hier gab es weder Bier noch Brot, bestenfalls ein paar Beeren, Pilze, Nüsse. Sie ließ die Hände sinken.
    Die Erde war braun und saftig, das Moos grün und feucht, sie erspähte jedoch nichts Essbares und konnte das Gefühl nicht abschütteln, der Boden wäre auch hier blutig und … verflucht. Nie würde sie sich in der Normandie sicher fühlen, nie eine Heimat hier finden.
    Sie raffte ihr Kleid, zwängte sich durchs Unterholz, lauschte atemlos. Dornige Ranken blieben am Stoff hängen und zerfetzten ihn. Sie blickte an sich herab, sah Blutspritzer auf dem Trägerrock, auf der Nadel, die den Überwurf zusammenhielt, auf den beiden ovalen Broschen, die die Träger an ihrem Leinenhemd befestigten.
    Noch größer als die Gier nach Essen und nach Wärme wurde der Wunsch, sich zu waschen. Sie gab ihm nicht nach, ignorierte das Blut, lauschte weiter. Auf das Knacken von Holz, auf den eigenen unruhigen Atem, auf Stimmen …
    Ja, da war eine Stimme! Nicht die des Waldes, jenes Chores aus Heulen, Gurren, Knurren, Knarzen, sondern die Stimme des Mörders.
    »Es waren Frauen … Mädchen … Sie haben sich irgendwo versteckt. Wir müssen sie kriegen … Sie haben alles gesehen … könnten es bezeugen …«
    Auf die Stimme folgte neues Hufgetrappel, das Schnauben von Pferden. Noch war nichts zu sehen, aber Gunnora vermeinte, die Blicke des Mannes auf sich zu spüren, die Blicke des Christen …
    Sie wusste, sie sollte ruhig stehen bleiben, sich eine Rune ausdenken, die Schutz versprach, sie in den Boden malen und den Mörder damit bannen. Doch ihr Geist war plötzlich wie leer, und sie hielt nicht länger an ihrem Plan fest, die Männer von ihren Schwestern wegzulocken. Sie konnte nicht mehr denken, nur rennen, keuchend, schnell und laut … viel zu laut.
    Sie kämpfte sich weiter durchs Unterholz und kam zu einer weiteren Lichtung. Sie betrat sie nicht als Erste. Der Mörder war vor ihr dort angekommen, und sie rannte ihm direkt in die Arme.

    Am Hof von Graf Richard in Rouen wurde in diesen Tagen viel getuschelt, und einmal mehr presste Alruna das Ohr an die Tür. Ihre Mutter hatte sie oft ermahnt, dass es ein Laster sei, heimlich zu lauschen, aber sie hatte sie auch schon sagen hören, dass Wissen Macht bedeute. Und Wissen, so war Alruna überzeugt, erwarb man sich nicht nur, indem man Fragen stellte und auf Antwort hoffte. Manchmal musste
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