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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen
Autoren: Julia Kröhn
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Verwandten noch den Ort, an dem sie wohnten.
    »Und wenn sie zurückkommen?«
    Gunnora schüttelte mit aller Macht ihre Verzweiflung ab. Noch wichtiger als Essen, Kleidung und ein Dach war es, zu überleben.
    »Wir müssen uns verstecken.«
    Sie blickte sich um. Eines der Schiffe hatte sich vom Steg gelöst und trieb unerreichbar im Wasser. Die Hütten waren unbeschädigt, aber wenn der Christ mit seinen Männern wiederkehrte, würde er dort zuerst nach Überlebenden suchen. Und sie wollte auch nicht länger in der Nähe der Leichen bleiben. Sie deutete auf den Wald im Landesinneren.
    »Bis dorthin müssten wir es schaffen. Im Schatten der Bäume können wir uns verbergen.«
    Gunnora, Duvelina, Seinfreda und Wevia drehten sich nicht nach den gefallenen Eltern um. Sie gingen erst über den Sand, dann über Gras, gelb und verdorrt, aber zumindest nicht blutig rot. Hufe hatten Spuren hinterlassen – Gunnora war sich nicht sicher, ob sie von den Pferden des Vaters oder denen der Mörder stammten. Nur eines wusste sie: Von ihr selbst sollten so wenig Spuren wie nur möglich zurückbleiben. Sie war kaum angekommen, und doch hasste sie dieses Land schon, und sie hasste die Christen, die es bewohnten.
    Duvelina wurde immer schwerer, sie trug sie dennoch verbissen weiter und achtete nicht auf den Schmerz in den Armen. Die Kleine begann wieder zu weinen, alsbald übertönte das Rascheln der Blätter im Wind jedoch das Schluchzen. Groß und dunkelgrün waren diese Blätter, aber nicht sehr zahlreich – der Wald war noch lichter als von der Ferne vermutet.
    »Und jetzt?«, fragte Seinfreda.
    Gunnora hatte keine Antwort.
    Sie stellte Duvelina auf den Boden, sank auf ihre Knie, stützte sich auf. Die Erde war warm. Mit einem Finger zeichnete sie in die warme Erde eine Rune.
    Naudhiz. Die Rune, die Not symbolisierte.
    Dank ihrer konnte man Not annehmen, daran wachsen und sie wenden. Oder davon erdrückt werden, daran zugrunde gehen, nie wieder seines Lebens froh werden. Segen oder Fluch. Nutzen oder Schaden. Gut oder Böse.
    Duvelina klagte, rief nach ihrer Mutter, Wevia war verstummt. Sie sah nicht wie ein Kind aus, sondern wie eine Greisin. Der Schock hatte sie um Jahre altern lassen.
    »Still!«, murmelte Gunnora. Duvelina weinte hemmungslos weiter. »Still!«, sagte sie noch einmal, und als das Mädchen nicht verstummte, schlug sie ihm die Hand vor den Mund. Es hing noch Erde daran, die an den weichen Lippen haften blieb.
    Augenblicklich war nichts mehr vom Weinen zu hören, still wurde es dennoch nicht. Hufgetrappel ertönte und wurde lauter, der Christ kehrte mit seinen Männern zurück. Vielleicht war er nie fort gewesen, sondern hatte aus der Ferne beobachtet, ob sich noch jemand regte.
    Nun brach Seinfreda vor Schreck in Tränen aus.
    Gunnora erhob sich und fuhr sie an: »Du bist eine Dänin, und Dänen weinen nicht. Unser Volk verabscheut Tränen.«
    »Sie werden uns töten, uns abschlachten!«, rief Seinfreda heiser.
    »Nicht, wenn ich es verhindern kann.«
    Ehe sie die Schwestern anwies, ihr zu folgen, warf sie einen letzten Blick auf die Rune Naudhiz.
    Ich werde die Prüfung annehmen.
    Ich bin stark und zäh.
    Ich werde nicht aufgeben.
    Sie liefen davon, hasteten über ein Stück freie Wiese und erreichten eine weitere Baumgruppe, die dichter war. Birken und Ahornbäume gaben sich die Hände, Farne wuchsen kniehoch. Vögel stoben aus dem Gebüsch – über jedes ungewohnte Geräusch nicht minder erschrocken wie sie. Anders als sie konnten die Vögel die Flügel ausbreiten und fliehen, Gunnora hingegen wähnte sich in eine Falle geraten, als sie auf einer Lichtung innehielt und sich umblickte. Wenn jetzt die Reiter auftauchten …
    Nein, das durfte sie nicht einmal denken! Auch nicht, dass ihre Eltern erschlagen im blutroten Sand lagen und sie nun allein die Verantwortung für ihre Schwestern trug!
    »Wir müssen uns zu den Verwandten unseres Vaters durchschlagen«, sagte Seinfreda.
    Gunnora war froh, dass Seinfreda wie sie noch nüchtern nachzudenken imstande war, anstatt sich Kummer und Grauen hinzugeben. Ihren Vorschlag hieß sie dennoch nicht gut.
    »Wir wissen zu wenig über sie, um sie finden zu können, noch nicht einmal ihren Namen. Besser, wir trennen uns.«
    Seinfreda starrte sie erschrocken an. »Aber …«
    »Nur für kurze Zeit«, sagte Gunnora schnell. »Und nur, solange die Männer in der Nähe sind. Ihr geht noch tiefer in den Wald hinein, und ich bleibe hier und halte nach ihnen Ausschau. Wenn ich sie
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