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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen
Autoren: Julia Kröhn
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F ÉCAMP
996
    Agnes fand es langweilig, auf den Tod zu warten. Sie hatte ihn sich anders vorgestellt, unheimlicher und bedrohlicher, hatte Schauder erwartet, die ihr über den Rücken rannen, weil mit dem Tod doch die Dämonen kamen, um nach der unsterblichen Seele zu gieren und mit Gottes Engeln eine Schlacht auszufechten. Doch da waren keine dunklen Schatten, kein geheimnisvolles Wispern unsichtbarer Gestalten, kein Flügelschlagen überirdischer Wesen, nein, da war nichts, was von der jenseitigen Welt kündete, nur jede Menge Rauch, der in der Kehle kitzelte. Und da waren ausdruckslose Gesichter.
    Der ganze Hofstaat hatte sich am Totenbett des Grafen der Normandie versammelt: seine Getreuen, die Großen des Landes, der Klerus und natürlich seine Familie – seine Gattin und die zahlreichen Kinder und Kindeskinder.
    Sie alle wirkten ernst. Ob sie auch gelangweilt waren wie sie und enttäuscht vom Tod, konnte Agnes nicht sagen, aber sie war überzeugt, dass alle hofften, dieses quälend lange Ringen möge nicht mehr allzu lange dauern. Ob nun allerdings der Tod zu schwach war oder der Graf zu stark – es ging einfach nicht zu Ende.
    Eine Woche zuvor war der Graf während eines Aufenthalts in Bayeux zusammengebrochen. Er hatte sich dort vom Fortschritt der Bauarbeiten – seit einigen Jahren werkte man daran, aus den Ruinen der römischen Zitadelle einen fürstlichen Palast erstehen zu lassen – überzeugen wollen. Doch ehe er die neuen Wände bestaunen und sich ein künftiges Leben darin ausmalen konnte, war er, so der Bericht seines Halbbruders Raoul von Ivry, von einer Ohnmacht überwältigt worden. Er erwachte daraus bald wieder, wurde seitdem aber von grässlichen Schmerzen geplagt, im Kopf ebenso wie in den Gliedern.
    Sein Zustand verschlechterte sich, sodass man ihn, der doch zeit seines Lebens gern geritten war, im Wagen nach Fécamp bringen musste. Bei seiner Ankunft fühlte er sich zu elend, deswegen Scham zu bekunden. Schlimm genug, dass er gleich danach sterben sollte, stand es dennoch nicht um ihn. In aller Ruhe hatte er von den Seinen Abschied genommen, mit rasselnder Stimme erklärt, dass sein ältester Sohn der Erbe der Normandie sei, und ins Gebet der Mönche eingestimmt. Mittlerweile war er verstummt, atmete jedoch immer noch.
    Agnes unterdrückte ein Seufzen. Sie verstand nun, warum die heidnischen Nordmänner, die einst dieses Reich gegründet hatten, mittlerweile aber allesamt getauft worden waren, das langsame Sterben im Bett als Fluch ansahen: Wer auf dem Schlachtfeld fiel, starb einen ruhmreichen und vor allem schnellen Tod.
    Ob sich auch der Graf langweilte? Und ob er womöglich mit einem Gähnen, nicht mit einem Lächeln bei Petrus an der Pforte klopfen würde?
    Sein Gesichtsausdruck war jedenfalls so leer wie der der anderen – oder nein … nicht aller.
    Agnes war plötzlich hellwach. Bei zweien der Mönche nahm sie eine große Anspannung wahr, die nicht allein das langsame Sterben des Grafen bedingen konnte. Der eine hieß Bruder Ouen und war für seine außergewöhnliche Leibesfülle ebenso bekannt wie für seine schöne Schrift, weswegen er seit Jahren dafür Verantwortung trug, bei Hofe Urkunden anzufertigen. Der andere war Bruder Remi. Obwohl er erst wenige Tage zuvor angereist war, kannte dennoch der ganze Hof in Fécamp seinen Namen: Er war ein Mönch vom Mont-Saint-Michel und darauf so stolz, dass er einem jeden diese Tatsache unter die Nase rieb, ob der es nun wissen wollte oder nicht.
    Die beiden Mönche schienen sich zu kennen, denn eben nickten sie sich zu, woraufhin sich Bruder Ouen schwerfällig vom Bett des Sterbenden entfernte und nach draußen trat. Bruder Remi folgte ihm rasch, nachdem er sich noch einmal misstrauisch umgesehen hatte.
    Agnes’ Herz pochte schneller, als auch sie sich unauffällig erhob und den Gang betrat. Den übrigen Versammelten mochte entgangen sein, was die beiden trieben, und hätten sie es bemerkt, hätten sie ihr Verschwinden nicht weiter infrage gestellt, doch in ihr erwachte die Neugier, was die beiden wohl bewogen hatte, sich aus dem Sterbezimmer zu schleichen.
    Vielleicht gab es einen harmlosen Grund, und sie suchten lediglich die Latrinen auf oder wollten sich den Magen vollschlagen. Zumindest Bruder Ouen war nicht grundlos so dick, sondern dafür bekannt, dass er der Versuchung der Völlerei viel öfter erlag als widerstand. Vielleicht hatten die beiden aber auch Wichtiges zu bereden, und herauszufinden, ob das stimmte, war in jedem
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