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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen
Autoren: Julia Kröhn
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Fall abwechslungsreicher, als den siechen Grafen zu betrachten.
    Agnes folgte den beiden Geistlichen mit raschem, lautlosem Schritt. Sie waren am Ende des Gangs stehen geblieben, hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten aufgeregt miteinander. Agnes nahm nur ein Zischen der Stimmen wahr, doch als sie näher schlich, glaubte sie, einzelne Wörter zu verstehen.
    »Was nun tun … lang gehütetes Geheimnis … einer meiner Mitbrüder … kurz vor seinem Tod anvertraut … unabsehbare Folgen …«
    Agnes stand im Schatten einer Säule verborgen und atmete tief durch. Die lähmende Müdigkeit fiel jäh von ihr ab, und ihr Körper spannte sich nicht minder an als der der beiden Mönche.
    »Ich lebe seit Jahren hier bei Hofe«, erklärte der dicke Bruder Ouen eben, und sein Doppelkinn erbebte, »aber in all dieser Zeit habe ich noch nie etwas von diesen Schriften gehört.«
    »Natürlich nicht!« Bruder Remi wirkte ungeduldig. Sein Kinn war anders als das von Bruder Ouen spitz und seine Nase nicht minder, was Agnes unwillkürlich an einen Raubvogel denken ließ. »Wenn alle Welt davon wüsste, dann wären es ja keine geheimen Schriften. Aber ich bin mir sicher, dass die Gräfin sie irgendwo aufbewahrt!«
    Bruder Ouen schüttelte den Kopf, und wieder bebte das schlaffe Kinn. »Es wäre närrisch von ihr gewesen, das zu tun, vorausgesetzt, diese Schriften sind tatsächlich so gefährlich, wie du behauptest.«
    »Mhm«, machte Bruder Remi. »Sie mag ja eine kluge Frau sein, aber dennoch bleibt sie ein Weib, und den Weibern hat, wie wir alle wissen, Gott mehr Gefühl als Verstand gegeben. Was bedeutet, dass sie den Hof kundig zu führen weiß und kostbare Kleidung samt Schmuck mit Würde zu tragen, nicht unbedingt jedoch, dass sie in weiser Voraussicht künftiger Politik zu handeln versteht.« Verachtung schwang in seiner Stimme mit.
    Bruder Ouen stellte den anderen für diese schmähenden Worte nicht zur Rede. »Und jetzt?«, fragte er.
    »Nun …«, setzte Bruder Remi gedehnt an, »… du weißt doch gewiss, wo sich das Gemach der Gräfin befindet. Eine bessere Gelegenheit, nach diesen Schriften zu suchen und sie an uns zu bringen, wird es nicht geben. Undenkbar, dass sie sich in den nächsten Stunden auch nur ein Jota vom Bett ihres Gatten entfernt.«
    Jetzt erzitterte Bruder Ouens ganzer Körper vor Erregung, und überdies glaubte Agnes, Schadenfreude in seiner Miene zu lesen. Sie spürte Wut in sich aufsteigen.
    »Die Gräfin ist ein stolzes Weib«, murmelte er. »Sie hielt sich immer über alle Welt erhaben und für unbesiegbar. Doch wenn es stimmt, was du sagst …«
    »Es stimmt, du kannst es mir glauben!«
    »Nun, wenn sie tatsächlich dieses Geheimnis hütet, wir es aber aufdecken und mit besagten Schriften den Beweis erbringen würden, dass wir nicht üble Verleumdung begehen, sondern die Wahrheit sagen, so wäre nicht nur ihr Ruf zerstört. Die Zukunft der Normandie stünde auf dem Spiel!«
    Auf seine aufgeregten Worte folgte Gelächter, das wie das Meckern einer Ziege klang. Was ihn zu belustigen schien, jagte Agnes einen eisigen Schrecken über den Rücken. Seit Stunden wartete sie darauf, innerlich zu erbeben, doch nun brachte sie nicht der zu erwartende Tod des Grafen dazu, sondern die Ahnung, dass sie etwas gehört hatte, was sie niemals hätte hören dürfen.
    »So ist es!«, stimmte Bruder Remi nicht minder triumphierend zu.
    Gütiger Gott!, dachte Agnes bestürzt. Was bloß war das Geheimnis der Gräfin der Normandie, die im Nebenraum von ihrem geliebten Gatten Abschied nahm? Und welchen Schaden würden diese beiden Mönche bewirken, könnten sie es tatsächlich ans Licht zerren?

I.
962
    Das Licht war derart trübe, dass Gunnora die einzelnen Zeichen kaum erkennen konnte, weswegen sie mit ihren Fingern ehrfürchtig darüberfuhr, um sie sich einzuprägen. Ihre Mutter Gunhild hatte sie mit einem kleinen Messer ins Holz geritzt. Nach einer Weile nahm Gunnora ihr das Werkzeug ab und ritzte nun selbst einige Runen.
    »Ich beherrsche jetzt alle Zeichen«, erklärte sie stolz.
    In früheren Zeiten hatte es nur sechzehn Runen gegeben, später waren acht weitere hinzugekommen. Und dann gab es noch einige Geheimrunen, die nur wenigen bekannt waren: Eine glich einem Wolf, und wenn man sie in den Grabstein eines Verstorbenen ritzte, war dieser für immer verflucht. Eine große Macht lag in den Runen, und die Mutter wurde nicht müde, sie vor dieser Macht zu warnen, so auch jetzt.
    »Jede Rune steht für ein
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