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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen
Autoren: Julia Kröhn
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Zeichen, aber überdies hat sie einen eigenen Namen, der andeutet, worin ihre Macht besteht. Und jede Rune kann etwas Gutes bewirken, wenn man sie jedoch verkehrt herum zeichnet, etwas Schlechtes. Das darfst du nie vergessen!«
    Ihre Stimme wurde immer leiser, der Griff um Gunnoras Schultern fester. Ein Knarzen ertönte, als der Schiffsbauch etwas schwankte. In den ersten Tagen ihrer Reise hatte der stete Wellengang in ihr Übelkeit ausgelöst, mittlerweile hatte Gunnora sich jedoch an die unruhige See und die vielen fremden Laute, ob vom ächzenden Holz oder der spritzenden Gischt, gewöhnt.
    Sie nickte eifrig und schnitzte weiter. »Ja, ich weiß«, sagte sie, »diese Rune hier, die achte, heißt Wunjo, was Erfolg und Erkenntnis bedeutet. Sie kann hingegen auch für Sorgen, Entfremdung und Besessenheit stehen. Und das ist die zehnte Rune, Naudhiz, was Not bedeutet. Sie gibt uns Kraft, unser Schicksal anzunehmen und unseren Ängsten ins Auge zu blicken. Doch wer unter ihrem Fluch steht, muss Mühsal ertragen, Verlust und Armut.«
    Gern hätte sie weitere Runen geschnitzt und mit der Mutter geredet, diese hingegen nahm ihr das Messer aus der Hand. »Es ist gut für heute«, entschied sie. »Du zeigst großen Eifer, Gunnora. Mit deinen siebzehn Jahren weißt du mehr über die Runen als manch altes Weiblein.«
    Sie klang stolz, zugleich auch unerwartet kummervoll, und sie strich ihrer Tochter über den Kopf, als wollte sie sie weniger loben als vielmehr trösten.
    »Aber du hast selbst gesagt, wie wichtig das ist!«, rief Gunnora. »Schließlich ist nicht gewiss, ob die Menschen in unserer neuen Heimat noch von der Macht der Runen wissen.«
    Sie konnte die Verachtung in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken. Wann immer sie an das künftige Zuhause dachte, erwachten Zweifel, ob sie das Land je würde lieben können und seinen Bewohnern je vertrauen. Der Vater hatte entschieden, dass in der Normandie ihre Zukunft läge, und dem Vater widersprach man nicht, doch ihr war das Widerstreben der Mutter nicht entgangen, als sie ihren Hof in Dänemark verlassen und das Schiff bestiegen hatten.
    »Das Wort Rune«, fuhr Gunnora fort, »bedeutet Geheimnis, und ich will all die Geheimnisse kennen, genau wie du. Ich will deine Macht besitzen!«
    Ja, Runen bedeuteten Macht. Es gab zwar Leute, die vor allem einen praktischen Nutzen darin sahen: Händler, die Vereinbarungen über die Lieferung von Waren mit Runen festhielten, oder Reisende, die auf ihren Wegen Botschaften hinterließen, Bauern, die ihren Namen in Pflüge ritzten, auf dass jeder wusste, wem diese gehörten, oder Krieger, die ihre Schilde und Schwerter auf diese Weise als die ihren kennzeichneten. Doch erst wenn man wie Gunhild die Runenzauberei beherrschte, entfalteten die einzelnen Zeichen ihre ganze Kraft: Sie konnten das Schicksal vorhersagen, Glück oder Pech bringen, konnten das Andenken an Verstorbene wahren oder deren Namen verfluchen, sie konnten Vieh gedeihen, die Ernte reifen und Geschwüre heilen lassen – oder Unwetter, Fäulnis und Tod bringen.
    Erneut strich die Mutter ihr über den Kopf. »Ich bin stolz, eine so gelehrige, wissbegierige Tochter zu haben«, murmelte sie, »aber du darfst eines nicht vergessen: Um die Macht der Runen zu nutzen, musst du einen Preis bezahlen.«
    Wieder knirschte es im Gebälk.
    »Welchen Preis?«, fragte Gunnora.
    Gunhild zögerte einen Augenblick. Sie schien sich nicht sicher zu sein, ob sie der Tochter diese Last aufbürden sollte. Schließlich gab sie sich einen Ruck.
    »Ich habe dir erzählt, welcher Gott am meisten über die Runen und ihre Magie weiß.«
    »Odin.«
    »Aber weißt du auch, wie er dieses Wissen erlangt hat?«
    Gunnora schüttelte den Kopf.
    »Odin war beharrlich auf der Suche nach Weisheit. Für einen Schluck aus Mimirs Brunnen, der seherische Kräfte verleiht, gab er sein rechtes Auge. Und er verwundete sich selbst. Neun Tage und neun Nächte hing er kopfüber im Weltenbaum Yggdrasil, ehe er Kenntnis von der Macht der Runen gewann und sich befreien konnte. Jeder kann lernen, diese Macht auszuüben – aber jeder hat dafür etwas zu geben.«
    Neun Tage, dachte Gunnora, neun Tage kopfüber in einem Baum hängen …
    »Und ich?«, fragte sie heiser, »was habe ich zu geben?«
    »Das weiß allein Odin.«
    Das Rumoren im Schiffsbauch wurde lauter, sein Ächzen klang plötzlich so unheilvoll wie die Stimme der Mutter. Gunnora starrte sie an, und trotz des trüben Lichts erkannte sie deutlich deren Angst. Galt
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