Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen
Autoren: Julia Kröhn
Vom Netzwerk:
Eisenstab kleine Steine formte.
    »Wenn wir erst einmal Land haben und reiche Ernte einfahren, dann wirst du auch eigenen Schmuck bekommen«, meinte der Vater lächelnd.
    »Und wenn du etwas älter bist«, fügte Gunhild ein wenig strenger hinzu.
    Bei Wevia regte sich Widerspruch, doch ehe er laut wurde, trat die vierjährige Duvelina dazwischen, schmiegte sich an den Vater und bat: »Erzähl mir eine Geschichte von der Normandie!«
    Ob im neuen Land häufiger die Sonne schien und mehr Reichtum zu erwarten stand, war ihr gleich, umso wissbegieriger aber war sie, ob dort wie in Dänemark Drachen, Elfen und Zwerge wohnten, faszinierende Wesen allesamt, von deren Eigenheiten zu hören sie nicht genug bekommen konnte. Der Vater erzählte ihr nicht nur Geschichten darüber, sondern schnitzte ihr Figuren, so auch den hölzernen Wolf, den Duvelina eben fest umklammert hielt. Als Gunnora noch kleiner war, hatten sie jene Miniaturnachbildungen von Booten, Schwertern, Tieren und allen möglichen geheimnisvollen Gestalten aus den Märchenwelten ebenso begeistert, doch mit den Jahren zogen die Runen eher ihr Interesse auf sich.
    Die Sonnenstrahlen fielen unterdessen fast senkrecht vom Himmel und krönten die Wellen mit ihrem goldenen Licht. Die Fahrt wurde langsamer, als das Segel eingeholt wurde, das an der querschiffs stehenden Rahe befestigt war. Den Mast wiederum, der die Rahe hielt, legten die Männer mithilfe von Wanten und Stagen aus Seehundsleder im Kielschwein um. Finngeirr, der Besitzer des Schiffes, erklärte voller Genugtuung, dass das nicht auf jedem Schiff möglich sei.
    Duvelina war außer sich vor Begeisterung, als nun der Drachenkopf am Bug des Schiffes abgenommen wurde. Draußen auf den Meeren diente er dazu, die bösen Meergeister fernzuhalten, an Land jedoch musste man ihn verstecken, auf dass er niemanden erschreckte – weder die Menschen noch die Wesen aus der Zwischenwelt. Gunnora wusste, dass Letztere großen Schaden verursachen konnten, doch für Duvelina waren Zwerge und Elfen noch nicht unheimlich, das Leben ein großer Spaß und alles, was man brauchte, es zu bestehen, dazu da, sie zu unterhalten – auch der Sonnenstein neben der Peilscheibe, mit dem man den Standort berechnete, der nun aber nicht länger vonnöten war.
    Noch war an Land nichts von den versprochenen Blumen und Ähren zu sehen, nur Sand und Stein und ein paar vereinzelte Bäume, die, verglichen mit den riesigen Eichen und Buchen der dänischen Wälder, dürr und mickrig erschienen. Gunnora sehnte sich schon jetzt nach ihrem würzigen Duft, wenngleich sie sich zu sagen versuchte, dass es gewiss auch hier Wälder gab und in Dänemark wiederum weites Ödland aus Sanddünen, Feuchtwiesen und Sümpfen, das nicht einladender war als diese Küste.
    Die Mutter trat zu ihr. »Du wirst sehen, hier wird alles besser.«
    Ob sie die Tochter trösten wollte oder vielmehr sich selbst?
    Gunnora nickte, lächelte aber nicht. Ein Leben ohne Kälte. Ein Leben ohne Hunger. Ein Leben ohne … Heimat.
    Walram schnalzte mit der Zunge. »Hat unsere Älteste etwa schon wieder Heimweh?« Und als Gunnora keine Antwort gab, sagte er: »Manchmal braucht man Mut zu bleiben, manchmal braucht man Mut zu gehen. Unser Volk hatte stets beides.«
    »Das weiß ich doch«, erwiderte Gunnora schnell.
    Neben Geschichten über Zwerge und Elfen hatte ihr Vater immer gern von den Jüten erzählt, die einst auf Booten nach England fuhren, viel kleiner und wackliger diese als ihr breites Frachtschiff. Etliche waren ertrunken – was andere nicht davon abgehalten hatte, es auch zu versuchen.
    Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich freue mich doch darauf, in der Normandie zu leben.«
    »Ich freue mich, wenn wir genug zu essen haben«, sagte die zarte Seinfreda.
    »Und ich freue mich auf meine erste Kette!«, rief Wevia.
    »Und schnitzt du mir ein Pferd?«, quäkte Duvelina.
    Gunhild sagte oft, dass ihre Töchter so verschieden wie die vier Himmelsrichtungen seien. Ihre Züge glichen sich, die Farbe ihrer Haare nicht – die von Seinfreda waren blond, die von Gunnora schwarz, Duvelina wuchsen rote Locken, Wevia weiche kastanienbraune.
    Ich bin der Norden, dachte Gunnora, dunkel wie die Wälder und das Meer, weil viel zu selten die Sonne darauf fällt wie jetzt. Und weil aus dem Norden das Wissen über die Runen stammt, das ich hier bewahren werde.
    »Aber natürlich schnitze ich dir ein Pferd!«, rief Walram.
    Er klang so begeistert, dass Gunnora sich von ihrer Wehmut nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher