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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen
Autoren: Julia Kröhn
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bezwingen ließ. Da war kein Unbehagen mehr, keine düstere Vorahnung. Nichts hatte sie gewarnt. Nichts darauf vorbereitet, was geschehen würde.
    Es dauerte nicht mehr lange, bis sie das Land erreichten, doch ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, ehe sie nach vielen Tagen auf hoher See tatsächlich wieder festen Boden betreten konnten. Vor dem Anlegen galt es, mit einer Leine die Wassertiefe auszuloten und danach das Schiff behutsam an den Portus heranzuführen, einen Steg aus Reisigbündeln und Flechtwerk, den man mit Steinen und Holzstämmen beschwert hatte. Pflöcke standen davon ab, die man in eine dafür vorgesehene Vorrichtung des Schiffes steckte, sodass es alsbald fest mit dem Steg verbunden war. Nun galt es noch abzuwarten, bis die Männer das Schiff entladen hatten.
    Gunnora kletterte auf den Steg und ging, Wevia an der Hand, ein paar wacklige Schritte. Obwohl das Holz kaum knarrte, vermeinte Gunnora noch den Rhythmus der Wellen in den Knochen zu spüren. Bei jedem Schritt schien der Boden zu beben. Der salzige Geruch des Meeres, der von Weite, Freiheit und Sonne kündete, wich einem fauligen von brackigem Wasser, und die Fluten waren nicht länger schaumgekrönt. Die Oberfläche spiegelte ihr Gesicht nicht. Das Wasser stand so ruhig wie das eines Tümpels.
    Seinfreda streckte ihre Hand nach der ältesten Schwester aus. »Ist das nicht aufregend?«, fragte sie.
    Gunnora nickte. Sie schritt entschlossen weiter und konnte doch die Angst nicht abschütteln, auf diesem schmalen Steg zu stolpern und ins Wasser zu fallen. Sein tiefes Grün wirkte so beängstigend: Unmöglich würde sie sich an der Oberfläche halten können, sie müsste untergehen und ertrinken! Doch sie stolperte nicht, erreichte einige Schritte später den sandigen Boden der Normandie und hatte dort keine Angst mehr vor dem Wasser, sondern vor dem Stimmengewirr, das sie empfing.
    Ihr Schiff war nicht das einzige, das eben angekommen war, und Gunnoras Familie nicht die einzige, die sich hier ansiedeln wollte. Ein zweites wurde gerade entladen. Unter den Menschen, die es verließen, befanden sich nicht nur Dänen, sondern auch Schweden. Einst waren sie nach Jütland gekommen, weil sie sich dort fruchtbareres Land erhofft hatten, nun, da diese Hoffnung unerfüllt geblieben war, kamen sie in die Normandie. Neugierig sahen sie sich um, Gunnora folgte ihrem Blick. Weiterhin waren nur Steine, Sand und gelblich schimmerndes Gras zu sehen. Die Schweden tuschelten dennoch aufgeregt, und auch Walrams Familie störte sich nicht daran, zumal es galt, ihren kostbarsten Besitz auszuladen – ihre beiden Pferde.
    Wie ein Großteil der Schweden war auch Walram Pferdezüchter. Keine zäheren Tiere gebe es, so hieß es, als die aus Dänemark – ob die, die im Kampf Krieger trugen, oder solche, die in Friedenszeiten Wagen zogen. Jetzt jedoch wirkten die beiden Tiere nicht zäh, sondern ängstlich. Als sie in Aggersborg das Schiff bestiegen hatten, hatte Walram sie auf die Seite gelegt und vertäut, seitdem waren sie nicht bewegt worden. Sie fühlten sich jetzt gewiss noch wackliger auf den Beinen als Gunnora. Die Tiere stürmten nahezu über den Steg, und Gunhild hob Duvelina rasch hoch, damit sie nicht unter ihre Hufe geriet. Die Pferde wieherten, und Walram lachte erleichtert.
    Es war das letzte Mal, dass Gunnora ihren Vater lachen hörte, das letzte Mal, dass die schwedischen Siedler ihnen etwas in ihrer Sprache zuriefen, das letzte Mal, dass Gunnora Pferde sah, ohne an Blut zu denken.
    Kaum hatten sie den sandigen Boden erreicht, hielten die Tiere plötzlich inne. Sie schnaubten, stiegen in die Luft und schüttelten ihre Mähne. Jetzt sah Gunnora, was sie so beunruhigte. Aus der Ferne näherten sich Artgenossen. Reiter saßen auf ihnen, die Reiter trugen Waffen, und sie ritten auf den Strand zu.
    »Wer ist das?«, fragte sie.
    Sie versuchte mehr zu erkennen, aber das Sonnenlicht, das sie eben noch wohlig gewärmt hatte, blendete sie.
    »Ich weiß es nicht …«
    Täuschte sie sich, oder zitterte die Stimme der Mutter? In jedem Fall vertraute ihr Gunhild hastig die jüngste Schwester an.
    »Wartet hier!«, befahl sie.
    Walram versuchte, die beiden Pferde zu beschwichtigen, und wenn er ihr angstvolles Wiehern auch nicht zum Verstummen brachte, führte er sie doch alsbald wieder sicher am Halfter.
    »Ist das deine Familie?«, rief Gunnora ihm zu.
    Einige seiner Verwandten lebten seit geraumer Zeit in der Normandie. Bei ihnen, so hatte Walram gehofft,
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