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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen
Autoren: Julia Kröhn
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Jumièges unter seinem Vater Wilhelm.«
    »Sagt mir«, begann Gunnora gedehnt, »ist die Lage in Coutances ähnlich wie einst die auf dem Mont-Saint-Michel? Ehe Richard sich des Wiederaufbaus annahm, so sagte man mir, hätten sich viele Kanoniker dort behaglich eingerichtet. Anstatt ein gottgefälliges Leben zu führen, hurten sie herum und trieben Völlerei. Der neue Abt Mainard von Saint-Wandrille, den Richard schickte, musste sich alle Mühe geben, um wieder für Zucht und Ordnung zu sorgen.«
    Sie freute sich, dass die kleine Spitze sofort ihr Ziel traf, das Gesicht des Mönchs puterrot wurde und er das Pergament etwas fester umklammerte, doch er fing sich rasch wieder.
    »Ich hoffe darauf, dass Coutances dereinst ähnlich groß und machtvoll sein wird wie Mont-Saint-Michel, Jumièges oder Saint-Ouen. Noch mehr Mönche sollten dorthin geschickt werden und endlich die Kirche erbaut werden – und zwar aus Stein, nicht aus Holz wie die Kirchen im Norden.« Das letzte Wort spuckte er nahezu verächtlich aus.
    Gunnora nickte. »Ich verstehe. Ihr seid bereit, mir diese Schriften zu geben … oder besser zu verkaufen – gegen meine Zusage, mich beim Grafen für Coutances einzusetzen.«
    Die Farbe seiner Wangen wurde wieder etwas heller. »Warum klingt Ihr so böse? Ich habe nicht zuletzt Euer Wohl im Blick. Schließlich habt Ihr einen Menschen getötet, und auch wenn er ein Heide war, wird Gott diese Untat noch leichter vergessen, wenn Ihr den Grundstein für eine große Kirche legt.«
    »Und denkt Ihr, diese Kirche wäre wahrhaft gesegnet, wenn Ihr darum feilscht wie ein Händler auf dem Markt?«
    »Die Götter aus dem Norden tricksen und betrügen doch auch. Wenn die Nordmänner von den Franken lernen können, so wir von ihnen ebenfalls, nicht wahr?«
    Gunnora lächelte schwach, wurde aber sofort wieder ernst. »Was gibt mir die Gewissheit, dass Ihr nicht das, was in den Schriften stehst, später erneut auf Pergament bannt, um mir damit zu schaden oder mich erneut zu erpressen?«
    »Nichts«, gab er unumwunden zu. »Aber Ihr könnt darauf vertrauen, dass ich das alles nicht für mich tue, sondern für meine Gemeinschaft und letztlich für Gott selbst. Ich bin nicht so dumm, sein Wohlwollen überzustrapazieren … und Eures auch nicht.«
    Wieder senkte sich Schweigen über sie, es war jedoch nicht länger angespannt. Gunnora spürte, wie sich ihr Herzschlag beruhigte und der Ärger über den Mann nachließ. Wie es aussah, würde sie ihn nach dem heutigen Tag nie wiedersehen müssen, und wenn sie seine Mittel auch nicht guthieß, konnte sie durchaus verstehen, was ihn antrieb.
    »Diese Schriften gegen eine steinerne Kirche in Coutances«, sagte sie. »Ihr habt mein Versprechen.«
    Trotz aller Überheblichkeit stand deutliche Freude in seinem Gesicht geschrieben.
    »Und Ihr das meine«, erklärte er.
    Nachdem der Mönch gegangen war, hielt Gunnora die Schriftrolle lange in den Händen. Sie war nicht sicher, was sie damit tun sollte. Gewiss, sie könnte das darauf Geschriebene abschaben, aber das war zu mühsam, sie könnte sie auch verbrennen, aber das Pergament würde in den Flammen grässlich stinken. Schließlich entschied sie sich anders, trat zu einer ihrer Truhen und öffnete sie. Als sie die Rolle hineinlegen wollte, stieß sie auf eine andere, alte. Seit Jahren hatte sie nicht mehr an sie gedacht, hatte diese doch ihren Zweck erfüllt, sie von der Last einer Lüge zu befreien, die, ans Tageslicht gezerrt, nicht nur ihr eigenes Leben zerstören würde, sondern das von Richard und ihrem ältesten Sohn ebenso.
    Gunnora versetzte es einen schmerzlichen Stich, als ihr Blick auf die Runen fiel und sie eines unheilvollen Zweifels gedenken musste.
    Agnarr hat mich geschändet.
    Agnarr hat mich womöglich geschwängert.
    Agnarr starb durch meine Hand.
    Oft hatte sie ihren Sohn Richard gemustert, oft seine Eigenarten studiert und überlegt, von wem er sie haben könnte. Sie erkannte sich selbst in ihm, ihren Vater Walram, manchmal sogar die jüngeren Schwestern. Doch ob er Richard ähnlich war oder vielmehr Agnarr und ob seine Sturheit dem Wunsch des einen, seine Macht zu erhalten, oder dem Trachten des anderen, sie zu unterwerfen und zu töten, entsprach, konnte sie nicht mit letzter Sicherheit sagen.
    Sie schüttelte den Kopf. Nein, an einem Tag wie diesem wollte sie nicht daran denken. Hastig legte sie das Pergament hinzu, schloss die Truhe und drehte sich um. Zu spät erkannte sie, dass sie beobachtet worden war.
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