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Meisterin der Runen

Meisterin der Runen

Titel: Meisterin der Runen
Autoren: Julia Kröhn
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Ungeduld sie zu übermannen drohten, erklärte sie schlicht: »Ich muss für eine Weile meine Gedanken sammeln, und das heißt: Ich will allein sein.«
    Man gehorchte wie immer sofort, und die Stille, die folgte, war eine Labsal. Gunnora setzte sich und schloss die Augen. Eigentlich hatte sie die anderen nur loswerden wollen, war jetzt aber für die Gelegenheit dankbar, sich tatsächlich der Vergangenheit zu besinnen. Unwillkürlich eilten ihre Gedanken zu dem Tag zurück, an dem sie einst in der Normandie angekommen war. An die Ermordung ihrer Eltern wollte sie sich nicht erinnern, umso mehr jedoch an ihre hoffnungsvollen Gesichter. Nicht ohne Furcht hatten sie die neue Heimat betreten, doch auch mit dem festen Willen, sich hier ein besseres Leben aufzubauen.
    Ob sie stolz sein würden auf sie, die Gräfin der Normandie? Oder sich schlichtweg freuen, weil sie glücklich war? Und ja, dachte sie plötzlich, ich bin es. Ich bin wahrhaft glücklich!
    Sie war stolz auf ihre Kinderschar, ging in ihren Aufgaben als Herrscherin auf, war dankbar für die lange Friedenszeit, die hinter ihnen lag. Und Richard … Nun, sie hätte ihn damals nicht selbst für sich erwählt, hatte lange Zeit trotz aller körperlichen Nähe manchen Gedanken vor ihm verborgen, doch mit der Zeit glichen sie zwei kräftigen Bäumen mit dickem Stamm und grünen Trieben, die nebeneinander wuchsen und deren Äste sich mehr und mehr ineinander verschlangen. Es war der gleiche Boden, der sie nährte und sie reiche Frucht tragen ließ.
    Ein Klopfen riss Gunnora aus den Gedanken. Seufzend schlug sie die Augen auf.
    »Gebt mir noch eine Weile!«, rief sie. Die Stille war gar so wohltuend.
    »Ich fürchte, das hier hat keine Zeit.«
    Sie fuhr herum. Auf der Schwelle zu ihrer Kemenate stand keine der jungen, aufgeregten Frauen, sondern ein Mönch. Sein Blick war stechend, das Lächeln höhnisch, und das hoch gereckte Kinn bekundete das Selbstbewusstsein von einem, der sie mit gutem Recht überrumpelte und nicht bereit war, dafür um Verzeihung zu bitten.
    Gunnora öffnete den Mund, um den ungebetenen Gast rüde fortzuschicken, doch der trat einfach näher, zog aus seiner Kutte eine Schriftrolle und überreichte sie ihr.
    Sämtlicher Protest verstummte, der Mund wurde ihr trocken, und plötzlich war die Stille nicht mehr wohltuend, sondern angespannt. Noch wollte Gunnora sich das Unbehagen nicht anmerken lassen, aber als sie die Zeilen überflog, konnte sie nicht verhindern, blass zu werden. Am noch satteren Lächeln des Mönchs erkannte sie, dass ihm das nicht entgangen war.
    »Woher wisst Ihr …«, setzte sie heiser an.
    Die restlichen Worte, die ihr auf den Lippen lagen, schluckte sie hinunter. Sie wollte sich nicht in die Enge treiben lassen, zumal es nicht das erste Mal geschah, dass einer seiner Zunft sie mit Verachtung behandelte. Bis jetzt hatte sie immer voller Stolz darüber hinweggesehen, und ähnlich unbeugsam wollte sie auch diesem hier begegnen. Sie erhob sich und stellte mit Genugtuung fest, dass sie einen guten Kopf größer war als der Mönch.
    Das hatte er wohl nicht erwartet, und erstmals zuckte er ein wenig zurück, doch wie sie fand auch er die Fassung alsbald wieder und trotzte ihr mit Worten.
    »Vor vielen Jahren hat einer meiner Mitbrüder ein Gespräch von Alruna und Arvid belauscht. Er hat nicht alles gehört, was sie sich zu sagen hatten, aber vieles doch. So auch, dass Ihr selbst jenen Agnarr getötet habt, nicht Alruna, wie sie es alle Welt glauben machte. In der Stunde seines Sterbens hat sich dieser Bruder mir anvertraut, und ich habe die Wahrheit aufgeschrieben.«
    »Warum?«, fuhr sie ihn herrisch an. »Es ist viele Jahre her und hat keinerlei Bedeutung!«
    »Seid Ihr Euch sicher?«
    »Gewiss! Die Christen und Heiden sind in unserem Land doch längst versöhnt und leben einträchtig miteinander.«
    Er sagte nichts, zog nur argwöhnisch die Braue hoch. Die Stille wurde noch angespannter, und ihr letzter Satz echote nicht volltönend von den Wänden, sondern kleinlaut.
    Die Normandie war nicht zerrissen wie einst, aber glich noch immer einem Kleid, das aus unterschiedlichen Stoffen zusammengenäht war und das zwar wärmte, jedoch kaum schön zu nennen war. Die Menschen sprachen fränkisch und gaben ihren Kindern fränkische Namen, aber viele hielten an den Sitten des Nordens fest. Es gab kaum einen Ort, an dem so viele Klöster und Kirchen gebaut wurden wie in der Normandie und an dem so viele Kleriker lebten, die von diesen
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