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Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe - Frascella, C: Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe

Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe - Frascella, C: Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe

Titel: Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe - Frascella, C: Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe
Autoren: Christian Frascella
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oder ein schädelzertrümmernder Axthieb sie eines Besseren belehrt. Wenn sie dann sterben müssen, erinnern sie sich im letzten Sekundenbruchteil ihres hirnlosen Herumlungerns in der Welt an die Ermahnungen, die sie mal gehört haben. Und alles fügt sich für sie zusammen, aber nun ist es zu spät. Amen.
    Eines Tages waren wir beide zu Hause, der Chef und ich. Die Robbe war in der Kirche, vielleicht weil sie um Vergebung bitten musste, dass sie so geworden war, wie sie war.
    Ich beobachtete ihn scharf. Er saß reglos auf dem von Zigarettenglut durchlöcherten Sofa. Ich saß reglos auf dem von Zigarettenglut durchlöcherten Sessel. Wir waren also quitt. Abgesehen davon, dass ich kein geisteskranker, potentieller Mörder war. Der Fernseher lief und bewegte sich ebenfalls nicht, man sah vier beschissene Politiker, die sich wegen der Berliner Mauer in die Haare kriegten.
    Um die Lage zu sondieren, fragte ich: »Was denkst du eigentlich über diese Geschichte mit dem Mauerfall?«
    Er schien erst in diesem Moment aufzuwachen. »Ich weiß nicht, was ich darüber denken soll«, antwortete er, seine Stimme war nicht so heiser wie sonst. Er war zerstreut. Okay, das war er immer, aber jetzt mehr denn je.
    Ich zeigte auf den Fernseher. »Was springt für uns dabei raus, Chef? Als Bewohner der westlichen Welt, meine ich. Na? Was bedeutet das für uns?«
    »Es kann vieles bedeuten«, sagte er, »ebenso wie es überhaupt nichts bedeuten kann.«
    »Was ist denn das für eine Scheißantwort?«
    Er warf mir einen seiner üblichen Schlagbohrerblicke zu. Oder war dieser anders? Ich hätte es nicht sagen können. Ich verstand diesen Mann nicht mehr. Naja, wahrscheinlich habe ich ihn nie verstanden. Oder vielleicht nur ein paar Mal. Aber jetzt wurde es schlimmer.
    »Jetzt musst du für meine Bildung sorgen, Chef«, sagte ich. »Da ich den geliebten Schulunterricht deinetwegen verlassen habe. In der Schule hätte man mir das beantworten können. Lehrer sind gebildete Menschen, weißt du? Die verdienen sich ihr Gehalt. Sie kennen sämtliche Daten von Katastrophen und bringen sie dir so bei, dass du sie auswendig kennst. Wenn also so was wie dieser Mauerfall passiert, kann man sagen, das ist 1793 oder 1858, so um den Dreh, schon einmal vorgekommen, und man weiß auch, wie es damals gelaufen ist. Das alles ist − wie sagt man? − eine historische Wiederkehr. Oder nicht?«
    Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich.« Blickte auf die Uhr, dann zum Telefon. Mein improvisiertes Plädoyer für das Schulwesen schien ihn nicht besonders beeindruckt zu haben. Er war mit etwas anderem beschäftigt. Ehrlich gesagt, ich bezweifelte jetzt, dass er mich töten wollte. Ich war eine jämmerliche kleine Fliege, die ihn hilflos umkreiste. Eine von der Art, die man eher verscheucht als zerquetscht. Nein, er würde mich nicht kaltmachen. Ich würde unter den Lebenden bleiben. Niemand würde mich aus dem Weg räumen. Das enttäuschte mich tief. Warum wollte mich niemand umbringen? Wenigstens ein bisschen, natürlich nicht ganz und gar. War ich wirklich so wenig lästig? Hasste mich denn niemand? Wie unendlich traurig. Womöglich eines natürlichen Todes sterben zu müssen. Vergreist, verblödet und sabbernd in einem Altersheim im ehrwürdigen Alter von vierundachtzig Jahren den Schwestern auf den Hintern stieren und dabei keinen mehr hochkriegen. Verwandtenbesuche immer sonntags alle acht Monate. Wie geht’s dir, Großpapa? Chut, anke. Wie ist das Leben hier drin? Chön, anke. Wie traurig, dich hier so zu sehen, Großpapa, hätte man dich doch bloß in zartem Alter umgebracht, dann wärst du jetzt nicht hier. U has Recht, stell mein Fuß auf en Chauerstoffchlauch, bitte.
    Während ich in grauenhaften Gedanken versunken war, klingelte das Telefon. Der Chef sprang vom Sofa auf wie ein athletischer Frosch. »Hau ab!«, befahl er.
    »Warum?«
    »Sofort! Und mach den Fernseher aus!«
    Ich sah ihn über mehrfaches Klingeln hinweg bestürzt an. Dann erhob ich mich gehorsam und zog mir sehr langsam die Jacke an, während seine Blicke mich durchbohrten. Ich machte die Haustür auf. »Wer zum Teufel ist das?«, fragte ich noch einmal.
    »VERSCHWINDE!« Ich ging raus.
    He, was war da los? Der Mann hatte also Geheimnisse. Nichts dagegen einzuwenden. Jeder muss wenigstens ein paar haben. Ich hatte auch Geheimnisse. Welche und wie viele hätte ich in dem Moment nicht sagen können. Aber ich hatte bestimmt welche. Ich legte ein Ohr an die Tür und konzentrierte mich wie
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