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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter
Autoren: Wladimir Kaminer
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die letzten drei Monate nicht mehr an die Arbeiter ausgezahlt. Zuerst hielt sich die halbe Stadt mit sogenannten Überbrückungskrediten über Wasser, Krediten, die für Lebensnotwendiges vergeben wurden, nicht zum Kauf von teuren Fernsehgeräten oder neuen Autos. Das Ganze war auf der Vermutung aufgebaut, dass die Zementfabrik nicht für immer geschlossen bliebe, die Krise vorübergehe und wieder Zement gebraucht werde. Die ganze Geldmetropole Moskau würde doch aus Glas und Beton bestehen, und ohne Zement könnte man weder mit Glas noch Beton etwas anfangen. So die Argumentation der Bewohner gegenüber der Bank. Doch ihre Rechnung ging nicht auf. Nach einigen Monaten Arbeitslosigkeit bewegte sich noch immer nichts in der Fabrik, die einzig verbliebene Bank machte dicht, und es wurde kein neues Geld in die Automaten geladen. Große Angst breitete sich in der Stadt aus. Die einen wirkten wie betäubt, die anderen suchten heftig nach außergewöhnlichen Lösungen für ihr Problem. Auf die Idee, ihre sterbende Stadt zu verlassen und sich nach einer anderen Heimat mit einer noch funktionierenden Fabrik umzuschauen, auf diese im Kapitalismus als »große Freiheit der Mobilität« und »Anpassungsfähigkeit an die Gesetze des Marktes« gelobte und geförderte Lösung aller Probleme sind die Bewohner nicht gekommen. Sie hingen an ihrem Städtchen. Sicher kann man als Sklave des Marktes jederzeit seine Arbeitskraft egal wohin verlegen, aber die sozialen Verbindungen, die ganze Struktur einer Stadt, kann man nicht mitnehmen – den guten Ruf, die Autorität, all das, woraus das Soziale des städtischen Lebens besteht. »Hier wissen alle, dass ich die besten Gurken in der Stadt einlege, und wer weiß es dort?«, brachte es eine Frau aus Pikalewo im Fernsehen auf den Punkt, als die Journalisten sie fragten, warum sie nicht an einen anderen Ort gehe, um Arbeit zu finden.
    Am Tiefpunkt angekommen, verwandelte sich die traurige Geschichte vom Untergang der Stadt Pikalewo plötzlich in ein Aschenputtelmärchen mit vorläufigem Happy End. Während die Männer von Pikalewo schon jede Hoffnung aufgegeben hatten und nur noch dauerangelten, zogen die Frauen von Pikalewo ihre besten Kleider und Schuhe mit hohen Absätzen an, wanderten in diesen schönen, obwohl unbequemen Sachen acht Kilometer durch Wälder und Felder bis zur russischen Autobahn, der stark befahrenen föderalen Straße A114, und besetzten sie sieben Stunden lang. Man erzählte, der Stau, den sie verursachten, sei 400 Kilometer lang gewesen. Weil sie gewusst hätten, dass das Fernsehen kommen würde, hätten sie sich so schick angezogen, wurde den Frauen von Fernsehjournalisten vorgehalten. Aber nein, konterten sie, wir in Pikalewo achten immer auf unser Aussehen, auch ohne Fernsehen.
    Nach sieben Stunden Stau kam die gute Fee in Gestalt von Premierminister Putin mit einem Hubschrauber angeflogen. Er bestellte den Oligarchen, dem die Zementfabrik gehörte, zu sich und forderte ihn in harschem Ton auf, die Fabrik sofort wieder in Betrieb zu nehmen. Der Filmbeitrag über dieses Treffen wurde nicht nur in den Abendnachrichten gesendet, er kam auch ins Internet und wirkte wie ein Putin-Werbespot. Besonders die Szene, in der er dem Oligarchen seinen Kugelschreiber zum Unterschreiben der zahlreichen Dokumente gab und sofort nach der Unterzeichnung befahl »Kugelschreiber zurück«. Noch bevor Putin wieder abgereist war, kamen schon die ersten Geldtransporter in die Stadt und füllten die Automaten wieder mit frisch gedruckten Rubelscheinen auf. Eine halbe Stunde später liefen schon die Kinder durch die Straßen, bunte Tütchen in der Hand mit Chips, Eis und Schokoriegeln. Ihre Eltern hatten das neue Geld also bereits abgehoben. Pikalewo war durch den beispiellosen Einsatz seiner Frauen gerettet – zumindest einmal für die nächsten drei Monate – und war dadurch zur berühmtesten Stadt Russlands aufgestiegen. Die Fernsehzuschauer allerorts atmeten erleichtert auf.
    »Gut, dass wir an keine Fabrik und an kein Finanzsystem gebunden sind und große Gärten haben«, meinte Onkel Joe dazu. In der Steppenstraße und den umliegenden Dörfern gibt es tatsächlich keinen Geldautomaten und keine Bank. Auch große Auftraggeber fehlen. Die Menschen begreifen hier ihre Arbeit nicht als Leistung, sondern schuften aus Leidenschaft, ob im eigenen Garten, um die Ernte zu sichern, oder im Café als Koch, wo eigentlich nur Bekannte, Verwandte und Freunde zu Mittag essen. Der einzige
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