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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter
Autoren: Wladimir Kaminer
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Lebensmittelladen des Dorfes erlaubt seinen Kunden anzuschreiben. Der Laden gehört zwar zu irgendeiner global operierenden Kette, die wiederum einer anderen Kette und letzten Endes einem Lebensmittel-Oligarchen gehört, der lässt sich aber im Kaukasus nicht blicken, erst recht nicht in unserem Dorf. Er weiß vermutlich nicht einmal, dass er dort einen Laden besitzt. Einmal im Monat kommt stattdessen ein junger Armenier, ein Kurier, der frische Ware bringt und das vorhandene Geld aus der Kasse abholt. Alle wissen, der eigentliche Chef des Ladens ist die Verkäuferin Alla, die Tochter des Imkers Juri Wladimirowitsch. Sie entscheidet, was wem und für wie viel verkauft wird. Der Vater von Alla nutzt ihre Stellung, um seinen Honig dort zu vertreiben. Eine andere Dorfbewohnerin, die als Einzige noch zwei Kühe besitzt, verkauft in dem Laden ihre hausgemachten Milchprodukte. Von dem Oligarchen kommen eigentlich nur Chips, Schokoriegel und Bonbons, auf die die Kinder stehen, und riesige Schokotafeln, die von den Dorfbewohnern eher ungern gegessen werden.
    Am sogenannten Rententag, in der Regel der letzte Montag des Monats, bringt der Briefträger die Rente ins Dorf. Damit werden dann jedes Mal die Rechnungen im Lebensmittelladen beglichen. Alla bekommt ihr Gehalt vom armenischen Kurier ausgezahlt, ihr Vater verdient auf dem Markt, die anderen Bewohner der Steppenstraße verdienen ihr Geld unregelmäßig und immer an einem anderen Ort – irgendwo in den vier Städten, die sich in der Nähe des Dorfes befinden. Der eine versucht sich als qualifizierter Bauarbeiter auf verschiedenen Baustellen, ein anderer fährt mit seinem Lada schwarz Taxi – vor allem fährt er die Urlauber von einer Mineralquelle zur nächsten. Der Mann von Alla, ein großer Dagestaner mit angeborenem Schnurrbart, arbeitet ebenfalls in der Stadt – als »Security« in einem Juwelierladen, wo er schon allein mit seinem mächtigen Schnurrbart alle potentiellen Diebe abschreckt.
    All diese Menschen arbeiten von Fall zu Fall. Mal geht es auf den Baustellen in der Stadt nicht weiter, mal kommen die Urlauber nicht, der Lada geht kaputt oder der Juwelierladen schließt für unbegrenzte Zeit. Aber irgendjemand im Dorf hat immer Geld und hilft den anderen, die Arbeitspause finanziell zu überbrücken. Auf diese Weise können die Rechnungen im Lebensmittelladen und die Telefonrechnungen immer wieder beglichen werden. Wenn umgekehrt alle gleichzeitig gut verdienen, auch das passiert manchmal, legen sie ihr Geld zusammen und kaufen etwas Nützliches für das Dorf oder zur Verbesserung der Straße: eine Kiste Bier zum Beispiel. Letztes Jahr, nachdem die ersten Fernsehberichte über Pikalewo gesendet worden waren, hatten sie etwas Geld zusammengelegt und eine Art Stiftung zur gegenseitigen Hilfe gebildet, Volksgeld für den Fall der Fälle: Wenn zum Beispiel jemand dringend eine Hochzeit feiern oder medizinisch behandelt werden muss, aber finanziell nicht dazu in der Lage ist.
    Das war endlich der erste Schritt in die richtige Richtung, meinte Onkel Joe, der solche solidarischen Projekte sehr unterstützt. Er träumt schon seit Jahren davon, die Steppenstraße vollständig zu asphaltieren. Bis jetzt haben nur einige Einwohner ihre eigenen Ausfahrten vor dem Haus asphaltiert. Und im Herbst verwandelt sich die Steppenstraße schnell in einen Sumpf, den man nur in kniehohen Gummistiefeln betreten kann. Asphalt ist aber teuer, nur gemeinsam könnten sie die Finanzierung bewerkstelligen. Die Einwohner sparen schon seit 1996 nach Kräften für dieses Projekt, und sie hätten die Straße schon längst asphaltiert, wenn es nicht ständig zu sogenannten unvorhergesehenen Ausgaben käme. Leider hat jede Familie solche Ausgaben, die zum einen zu privat sind, das heißt, nicht aus der Gemeinschaftskasse bezahlt werden können, zum anderen aber auch existentiell notwendige Investitionen sind.
    Die Verkäuferin Alla investiert zum Beispiel Unsummen in ihre künstlichen Fingernägel. Vor einigen Jahren hatte sie sich diese Nägel aus Verzweiflung in einem Salon in Patigorsk ankleben lassen, damit in ihrem Leben endlich etwas passierte. Die Nägel waren damals dreifarbig, rosa-blau-weiß, sie kosteten 2000 Rubel und erinnerten entfernt an die russische Flagge. Sie brachten auch tatsächlich große Veränderungen in Allas Leben. Mit den neuen Fingernägeln krallte sie sich den Türsteher vom Juwelierladen und bekam den Job im dörflichen Lebensmittelkiosk. Seitdem glaubt sie, dass
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