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Meine kaukasische Schwiegermutter

Meine kaukasische Schwiegermutter

Titel: Meine kaukasische Schwiegermutter
Autoren: Wladimir Kaminer
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Jogger, überhaupt keine Menschen waren weit und breit zu sehen, nur ein großer schwarzer Vogel saß auf einer umgefallenen ausgetrockneten Kiefer, im Schatten strömte ein kleiner Bach. Es war eine perfekte Joggerstrecke, nur vielleicht etwas zu einsam.
    Vitalis Plan war, von den Bergen hinunter zum See zu joggen, vielleicht noch ein paar Mal um den See herum und dann ins Hotel zurück. Er und Tamara liefen erst um den einen, dann um den nächsten Berg herum, doch kaum hatten sie einen Bergweg hinter sich gelassen, eröffnete sich ihnen ein neuer, der wieder steil nach oben führte. Sie fanden sich jedes Mal auf einem anderen Berg wieder und kamen dem See keinen Meter näher. Die Sonne knallte inzwischen vom Himmel, ein Vogel saß auf einem umgestürzten Baum, ein Bach sprudelte und glänzte im Licht. Es wurde ihnen klar: Sie hatten ihre Joggingrunden im Kreis gedreht.
    Tamara sagte, es reiche ihr, ihre Kondition habe bereits ungeahnte Dimensionen erreicht, sie fühle sich inzwischen mehr als fit und würde sich nun gerne zurückziehen. Sie wollte nicht mehr versuchen, um jeden Preis zum See zu kommen, sondern sich auf den Rückweg zum Hotel machen. Vitali war sich unsicher, ob ein Rückzieher in dieser Situation das Richtige war. Er schlug vor, noch höher auf den Berg zu klettern, um eine bessere Sicht zu haben. Der Weg nach oben führte zwar durch den Wald und war zum Joggen ungeeignet, dafür konnte man sich bestimmt von dort oben besser orientieren. Tamara war nicht einverstanden. Sie trennten sich, Tamara joggte zurück und verlief sich in der Steppe, Vitali kletterte nach oben und ging im Dickicht des Bergwalds verloren.
    Er irrte lange zwischen den Bäumen herum, bis er unerwartet auf einen Mann in dickem Mantel mit Hund und Gewehr traf. Der Mann wollte Vitali nicht glauben, dass er tatsächlich aus Schelesnowodsk bis hierher gejoggt war. Nach Aussage des Mannes befanden sie sich in der Nähe der Stadt Kislowodsk, 25 Kilometer nördlich vom Hotel »Perle des Kaukasus«. Er kenne sich in der Gegend gut aus, versicherte der Mann mit dem Hund und dem Gewehr, schließlich wäre er seit 1963 stellvertretender Förster und irre seit beinahe einem halben Jahrhundert beruflich in diesem Wald herum. Der Förster schätzte Vitalis Lage als zum Nachdenken anregend, aber nicht hoffnungslos ein. Für jedes komplizierte Problem haben die Menschen im Kaukasus eine einfache Lösung. Natürlich gäbe es eine geheime Abkürzung nach Schelesnowodsk, meinte der Förster und zeigte in eine Richtung, wo der Wald besonders dicht und undurchdringlich schien.
    »Du gehst diesen Waldweg entlang«, sagte er zu Vitali und zeigte auf einen unsichtbaren Weg, den wahrscheinlich nur er erkennen konnte. »Du gehst immer weiter geradeaus, bis du in eine Sackgasse gerätst, wo ganz viele Büsche und alte Bäume übereinanderliegen. Diese Baumsperre habe ich persönlich errichtet, damit Fremde diese Abkürzung nicht sehen. Normalerweise würde ich sie niemandem zeigen, aber du machst einen guten Eindruck, dir möchte ich helfen. Du kletterst also über die alten Bäume, und auf der anderen Seite siehst du den bequemen Weg nach Schelesnowodsk – immer bergabwärts.«
    Vitali ging durch den Wald, fand die Baumsperre, kletterte unter großer Anstrengung über die Bäume und fand auf der anderen Seite tatsächlich den besagten Weg. Dieser wurde jedoch schnell enger und endete auch nicht in Schelesnowodsk, sondern an einer noch größeren unpassierbaren Baumsperre. Auf der anderen Seite der Baumsperre sah Vitali erneut einen Menschen, der aus der entgegengesetzten Richtung kam und genau wie Vitali mit dem Buschwerk kämpfte. Noch heute früh sei er ein normaler Urlauber aus St. Petersburg gewesen, rief ihm der Mann zu. Jetzt fühle er sich jedoch wie Robinson. Er wollte nur kurz im Wald spazieren gehen, nun suche er seit vier Stunden vergeblich den Weg zurück. Er sei sich aber sicher, dass sich hinter ihm weder Schelesnowodsk noch irgendeine andere Stadt befände.
    »Wo Sie hinwollen, ist auch keine zu sehen«, versicherte ihm Vitali traurig. Der Mann kämpfte sich trotzdem in die falsche Richtung weiter durchs Unterholz.
    Auch Vitali wollte in dieser idiotischen Lage nicht aufgeben. Er joggte zurück. Nach einer Stunde traf er wieder auf den Förster. Er sei genau auf dem richtigen Weg gewesen, erklärte der Förster ihm seinen Fehler. Den zweiten Schutzwall habe er ebenfalls errichtet, um den Wald vor fremden Joggern zu schützen. Schließlich
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