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Mein Schutzengel ist ein Anfaenger

Mein Schutzengel ist ein Anfaenger

Titel: Mein Schutzengel ist ein Anfaenger
Autoren: Maximilian Dorner
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Schriftsteller, wenn du so blind für Zeichen bist?
    Es wird wahrscheinlich nicht einfach, dir Karls Telefonnummer noch einmal zukommen zu lassen.
    Die Straßenbahn hält. Wenn die Rampe weit genug heruntergelassen ist, schafft Max den Einstieg ohne Hilfe. Manchmal aber muss er nach drei erfolglosen Versuchen warten, bis ein Passant oder der Fahrer ihn hinaufschiebt. Wie heute. Das empfindet er jedes Mal als Demütigung. Die er hinnimmt wie eine gerechte Strafe.
    Direkt hinter der Fahrerkabine ist Platz für Rollstühle. Die alte Frau, die auf der hochklappbaren Bank ihm gegenübersitzt, muss die Füße anziehen, so stürmisch wendet Max. Drei Stationen lang merkt er nicht, dass sie Blickkontakt mit ihm aufnehmen möchte. Stattdessen mustert er voller Abscheu sein Spiegelbild in der Scheibe.
    Warum habe ich nicht laut und vernehmlich Nein gesagt? Im Café mit Helmuts neuer Spiegelneuronen-Methode. Bei Sylvia mit ihrem Blumendünger, bei der Reiki-Spezialistin. Warum schweige ich stattdessen verstockt wie ein Kleinkind? – Er versteht sich selbst nicht mehr.
    » Ja, ja.«
    Überrascht sieht er auf. Die Frau ihm gegenüber ist ungefähr so alt wie die Reiki-Missionarin: allerdings nicht mit Gold behängt, sondern mit einer schlichten Holzperlenkette.
    Max lächelt sie kurz an und senkt den Kopf. Nur jetzt nicht wieder über seine Behinderung reden müssen! Diese Gespräche verlaufen doch eh immer gleich. Sein Gegenüber kennt jemanden mit derselben Diagnose. Dann wird ausführlich dessen Krankengeschichte erzählt. Anscheinend tut es vielen Menschen gut, etwas zu seinem Schicksal beitragen zu können. Am schlimmsten sind Taxifahrer, sie hören so viele Krankheitsgeschichten, dass sie sich oft die Abgebrühtheit eines Chirurgen antrainiert haben. Die Dialoge mit ihnen erinnern an ein absurdes Theaterstück von Beckett. – Aber diese Frau hier lässt ihn Gott sei Dank in Ruhe.
    Die Frau mit der Holzkette wollte mit ihm gar nicht über den Rollstuhl sprechen, sondern über Inferno. Vor vier Monaten ist ihr Kater gestorben. Wegen einer Erbkrankheit musste er schließlich eingeschläfert werden. Sie ist untröstlich, sie ist es wirklich. Ihr Mann, nicht gerade empfänglich für ihren Schmerz, sagt nun täglich, wenn sie wieder von ihm anfängt: » Wenigstens musste er nicht leiden.«
    Was wusste der schon davon? » Aber ich leide, ich!«
    » Ich weiß nicht, was du hast, es war doch nur noch eine Qual für ihn.«
    Acht Wochen nach Infernos Tod wurde sie von einer Nachbarin ins Tierheim begleitet. Aber den schnurrenden Kater, den diese einen idealen Ersatz fand, wies sie brüsk zurück. Sie bestand darauf, zwei junge Tiere aus derselben Züchtung zu kaufen wie Inferno. Dass diese irgendwann an derselben Krankheit zugrunde gehen werden, überging sie. Ihn könnte ihr eh niemand ersetzen. Und jeder Versuch, sie zu trösten, kommt ihr noch immer vor, als würde jemand dem toten Inferno absichtlich auf den Schwanz treten. Wer so abgründig leidet, will keinen Trost, der will gar nichts.
    Trotzdem muss sie über ihr Elend reden, immer wieder, es ist wie ein Fluch. Nur das lindert den Schmerz. Deswegen hätte sie dem Mann im Rollstuhl so gerne von ihrem Kater erzählt. Vielleicht hätte sie der in seiner hoffnungslosen Lage verstanden.

7.
    Manch einer flieht aus der Einsamkeit ins Alleinsein und merkt dann erst, wie verzweifelt er ist.
    An manchen Tagen meint Max wie die Hälfte der Menschheit, von der Welt vergessen worden zu sein. Nur weil das Telefon kein einziges Mal klingelt, keine Mail kommt und die einzige Verabredung absagt. An einem solchen Tag zieht er die Einladung zu einer Taufe aus dem Briefkasten. Die Mutter ist eine Studienfreundin, seitdem haben sie sich allerdings kaum mehr getroffen.
    Max fühlt sich für Kindergeschrei und glückliche Eltern zu schwach. Ein paar Tage später erklärt ihm die Freundin jedoch auf dem Anrufbeantworter, wie viel ihr an seinem Kommen liege. Außerdem gebe es keine Stufen. Sie habe sich extra erkundigt. Also sagt er voller Zweifel zu.
    Während die anderen noch mit Sektgläsern vor der Kirche stehen, rollt Max schon hinein. Er kennt niemanden. Augenscheinlich hat die Mutter ihren Freundeskreis seit dem Studium komplett ausgetauscht. Max fühlt sich wie der Verflossene der Braut bei einer Hochzeit.
    Der Innenraum besteht komplett aus Holz, bis auf den Steinfußboden. In einen Längsbalken an der Decke ist mit riesigen schwarzen Sütterlinbuchstaben ein Bibelvers geschnitzt: » Selig
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