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Mein Leben in 80 B

Mein Leben in 80 B

Titel: Mein Leben in 80 B
Autoren: Anja Goerz
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weit über sechzig Jahre alt, steckten sie an Energie und Elan sogar meinen Marathon-erprobten Ehemann in die Tasche. Auch aufgrund der allgegenwärtigen Alma hatte ich mir den Job bei Lucinda-Dessous gesucht, um mich nicht zu Tode zu langweilen. Wieder als Verkäuferin auszuhelfen, hatte ich keine Lust gehabt. Hätte ich als Fotografin arbeiten wollen, hätte ich erst meinen Meister nachholen müssen. Aber ich wollte etwas machen, bei dem ich mir aussuchen konnte, wie viel und vor allem wann ich arbeitete. Und im Gegensatz zu einigen Freundinnen kam ich mir als Nur-Hausfrau-und-Mutter auch nicht schäbig vor und hatte nie das Gefühl, mich dafür rechtfertigen zu müssen.
    Heute hatte Toni mich lange schlafen lassen, war bereits seine große Runde durch den Wald gejoggt, hatte dann mit Tom Brötchen geholt, den Tisch gedeckt und Kaffee gekocht. Wenn er das tat, konnte ich fast sicher sein, dass er trotz des Wochenendes später noch ins Büro fahren würde. Im Moment aber saß er gelassen in Jeans und langärmeligem Poloshirt am Tisch und nippte an seinem Kaffee.
    Hanna hatte gestern eindeutig zu lange ferngesehen, so übermüdet und lustlos, wie sie über ihrem Teller hing. Vor schulfreien Tagen ließ Toni den Kindern vieles durchgehen, was sie bei mir nicht durften. Meine Tochter würde sich ganz sicher, wenn sie ihr kleines Vollkornbrötchen mit hauchdünner Marmeladenschicht («Mama, bitte nicht so viel Fett, in meinem Alter verwertet man das nicht so gut, und ich will auf keinen Fall so dick werden wie du») gegessen hatte, wieder ins Bett legen, den ganzen Tag eine SMS nach der anderen an ihre Freundinnen schreiben und Vampirromane lesen.
    Aber zunächst musste sie sich wie wir alle die Erlebnisse von Toms aufregender Schulwoche anhören. Mein Sohn liebte es, am Wochenende der ganzen Familie zu berichten, was in seiner vierten Klasse wieder Weltbewegendes geschehen war. So hatte ich seit meinem ersten Kaffee schon erfahren, dass er im Werkunterricht einen Höhleneingang in einen Ytong-Stein gemeißelt hatte, dass die Sportlehrerin wieder voll fies gemeckert hatte, weil er wegen eines verknoteten Schnürbands an seinem Turnschuh zwei Minuten zu spät zum Unterricht erschienen war, und dass alle in der Klasse ihre November-Gedichte aufsagen mussten. Inzwischen war ich bei der dritten Tasse Kaffee angelangt, Tom bei der Schilderung der Mitschüler-Gedichte von gestern Morgen.
    «Also, Chris, den kennst du ja, Mama, der lernt ja immer sehr lange Gedichte auswendig, und dieses Mal hatte er wirklich ein ganz trauriges. Es ging um einen Mann, der lange auf einem Pferd unterwegs war, und dann ist er noch ein Stückchen weiter gereitet …», erklärte Tom mit roten Wangen.
    «
Geritten
heißt das, du Doofkopp.» Immerhin war Hanna noch zu Reaktionen fähig und nicht gleich am Tisch wieder eingeschlafen.
    Ich zog die Augenbrauen hoch, um ihr zu signalisieren, dass sie ihrem kleinen Bruder gegenüber etwas nachsichtiger sein sollte. Sie verdrehte die Augen und stand auf, um sich am Küchentresen ein Glas Mineralwasser einzuschenken.
    Tom ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. «Und dann ist er eeendlich angekommen, der arme Mann. Er war sehr müde, und Hunger hatte er auch, denn als der da langgereitet ist, da gab es zum Beispiel noch gar keinen McDonald’s unterwegs, wo der sich mal einen Hamburger und Pommes kaufen konnte.» Eine Tatsache, die für seinen kleinen Kinderkopf geradezu unvorstellbar schien. Toni hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen.
    «Und dahann, Mama, weißt du, was dann passiert ist?» Tom machte eine bedeutungsschwere Pause, bevor er zum Ende seiner Geschichte kam. «Mit Müh und Not hat er den Bauernhof erreicht. Aber dann ist der Mann fast vom Pferd gefallen, und alle haben gesehen, dass das Baby auf seinem Arm einfach tot war. Am Ende waren Carina und Inken so traurig, dass sie weinen mussten. Aber die sind sowieso Babys und heulen immer gleich los. Kann ich noch ein Brötchen mit Nutella haben?» Er lächelte mich an und griff nach dem Korb mit den Backwaren. Schön, wenn das Leben noch so einfach ist – Goethes Erlkönig und Nuss-Nougat-Creme.
    «Kann ich aufstehen? Ich würde im Bett gern noch etwas lesen», leitete Hanna ihren Rückzug ein.
    Toni nickte, da konnte ich schlecht nein sagen. Hanna zog ab in Richtung Treppe zu ihrem Zimmer, aus dem sie vermutlich erst bei Einbruch der Dunkelheit wieder auftauchen würde.
    «Was machen wir denn heute? Immerhin regnet es nicht. Wir
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